Das Rad der Ewigkeit: Roman (German Edition)
versetzte er einen geschickten Karatetritt in den Unterleib. Durch seinen Halbschuh spürte er, dass er gut getroffen hatte. Sergeij beschloss, davonzulaufen, bevor die Polizei erschien.
Gerade drehte er sich um und erblickte in der nicht weit entfernten Drehtür den heranstürmenden Dimitrij, als er von der Seite mit rasender Geschwindigkeit die Spitze eines Schlagstocks auf sich zukommen sah. Er versuchte noch die Arme hochzureißen, doch dann durchströmte ein warmes Gefühl seine rechte Schläfe, und alles wurde dunkel.
32
»Das muss eine Verwechslung sein«, sagte Julia mit tief verstellter Stimme, wobei sie ihren Kopf auf die Brust drückte.
Wir prusteten los. Zigmal hatten wir die Szene am Ausgang der Bibliothek schon nachgespielt und unseren Verfolger dabei immer dümmer aussehen lassen.
Inzwischen saßen wir in einem alten grünen VW Golf, der einem Kollegen von Julia gehörte. Seit einer Stunde fuhren wir auf der Autobahn in Richtung Süden. Der Plan hatte funktioniert. Unter der Dusche in meinem Badezimmer hatten wir leise unser weiteres Vorgehen besprochen und zwischendurch mit lauten Tönen vorgetäuscht, dass wir uns liebten. Die Situation war für uns beide peinlich genug, doch die Angst vertrieb letztendlich jede Scham. Wir waren uns ziemlich sicher, dass unsere Worte unter der Dusche nicht mitgehört werden konnten und wir auf diese Weise kein Misstrauen erweckten.
Wir beschlossen, unsere Verfolger abzuschütteln und erst einmal aus Hamburg zu fliehen. Allein der Gedanke, auf der Flucht zu sein, hatte für mich etwas Surreales an sich. Meine Großmutter war im Zweiten Weltkrieg aus Schlesien geflohen, doch das war für mich eine Ewigkeit her.
Nachdem jeder von uns eine Reisetasche gepackt hatte, waren wir zur Bibliothek gefahren. Doch zuvor hatte Julia mit dem Handy einer befreundeten Wohnungsnachbarin einen Kollegen in der Bibliothek angerufen. Er hieß Marcus und verehrte Julia – heimlich, wie er dachte. Als sie ihn um Hilfe bat, war er so glücklich, dass er sich sofort dazu bereit erklärte. Er zeigte sich sogar einverstanden, uns seinen Wagen zu leihen. Wir mussten ihm zwar verraten, dass wir verfolgt wurden, doch als Grund gaben wir eine erfundene Familiengeschichte von Julia an. Marcus war diskret genug, nicht weiter nachzufragen.
Als wir beide in der Bibliothek ankamen, beobachtete er den Eingang und konnte, wie von uns vermutet, einen Mann ausmachen, der uns folgte. An einer unübersichtlichen Stelle in der Bibliothek provozierte er einen Zusammenstoß und klebte dem Mann dabei auf die Rückseite seiner Jacke einen winzigen Aufkleber mit Sicherheitsstreifen. In der Bibliothek wurden Etiketten dieser Art benutzt, um die Bücher vor Diebstahl zu schützen. Wenn diese Aufkleber, die kaum größer als ein Fingernagel waren, bei der Ausleihe nicht magnetisch deaktiviert wurden, lösten sie einen Alarm aus, sobald man die Detektoren am Ausgang passierte. Julias Kollegen hatten sich damit untereinander bereits einige Späße erlaubt.
Im Personalbereich der Bibliothek hatten wir die von Marcus hinterlegten Schlüssel für seinen VW Golf vorgefunden, der in einer kleinen Seitenstraße parkte. Nach dem Verlassen der Bibliothek fanden wir den Wagen sofort und fuhren in Richtung Autobahn. Auf halbem Weg dorthin kam uns ein Polizeiwagen entgegengerast. Es schien in der Bibliothek ernsthafte Probleme zu geben.
»Zu gern hätte ich von Marcus gewusst, was genau passiert ist«, sagte Julia.
Doch wir konnten ihn nicht anrufen. Unsere Handys hatten wir in der Bibliothek zurückgelassen, damit uns niemand orten konnte.
Meinen Eltern hatte ich noch kurz die Nachricht zukommen lassen, ich würde mit einer Freundin für eine Woche in den Urlaub fahren. Ich wusste allerdings nicht, was ich der Leiterin des Seniorenheims sagen sollte; daher verzichtete ich darauf, mich abzumelden. Zwar war mir klar, dass mein Verschwinden für Probleme sorgen würde – auch wegen der Auflage, mich regelmäßig bei meinem Bewährungshelfer zu melden. Doch in Anbetracht der anderen, offenbar größeren Probleme, die ich derzeit hatte, entschied ich mich, diese Schwierigkeiten in Kauf zu nehmen.
Ich blickte kurz nach rechts zu Julia. Sie schaute gedankenverloren aus dem Beifahrerfenster. Mir wurde bewusst, dass ich mich recht wohl in ihrer Nähe fühlte. Bislang hatten wir allerdings noch gar keine rechte Gelegenheit gehabt, über uns selbst zu sprechen. Doch jetzt lag eine längere Autofahrt vor uns …
»Ich bin
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