Das Rad der Zeit 0. Das Original: Der Ruf des Frühlings. Die Vorgeschichte (German Edition)
nicht unbedingt Weisheit gelehrt hatte. So bitter das Wissen auch sein musste, sie würde niemals die Stola erringen, aber sie musste bleiben, bis die Schwestern davon überzeugt waren, dass sie die Macht lenken konnte, ohne sich oder andere dabei zu verletzen. Trotzdem dachte sie womöglich noch immer an Flucht. Gelegentlich liefen Novizinnen fort, manchmal sogar die eine oder andere Aufgenommene, die vor dem zurückschreckte, was vor ihr lag, aber irgendwann wurden sie immer eingefangen, und ihre Rückkehr in die Burg war schmerzlich unangenehm, um es höflich auszudrücken. Es war für alle Beteiligten besser, wenn das vermieden werden konnte.
So müde Moiraine auch war, zu einem anderen Zeitpunkt hätte sie ihr ein paar tröstende Worte gesagt. Oder ein paar Worte der Vorsicht. An diesem Morgen war der Gong zum Ersten Wecken bereits ertönt, und es war kaum weniger als eine halbe Stunde bis zum zweiten. Vor dem dritten Gong konnten sie es gerade noch schaffen, schnell einen Bissen zu essen und am Stall zu sein, aber es würde knapp werden. Gähnend umarmte Moiraine Siuan noch einmal kurz und eilte in ihre Decke gehüllt in die Dunkelheit hinaus, bevor Setsuko die nächste Tür erreichte und daran pochte, um Sheriam zu wecken. Das Kind würde schon etwas mehr tun müssen. Sheriam schlief wie eine Tote.
Ein halbes Dutzend Novizinnen mit Lampen klopften geisterhaften Schatten in der Nacht gleich an andere Türen. Ein hochgewachsenes Mädchen mit wallendem langem blondem Haar machte an Moiraines Tür einen mürrischen Knicks, als sie sie weiterschickte. Lisandre würde an der Aufgenommenenprüfung teilnehmen dürfen, aber das auch nur, wenn man ihr ihre mürrische Art austreiben konnte. Vermutlich würde das gelingen. Wenn die Burg in einer ihrer Schülerinnen einen Fehler erkannte, wurde dieser Fehler für gewöhnlich korrigiert, auf die eine oder andere Weise.
Moiraine wusch sich schnell und kleidete sich an, nahm sich kaum die Zeit, sich die Zähne mit Salz und Wasser zu putzen und sich das Haar mit der Bürste halbwegs vernünftig zu richten, aber als sie mit ihrer Ledertasche unter dem Umhang die Galerie erreichte, hatte sich die Dunkelheit definitiv grau verfärbt. Siuan stand bereits fertig da und unterhielt sich mit einer deutlich gereizt aussehenden, flammenhaarigen Sheriam, und andere Aufgenommene eilten bereits zum Frühstück.
»Sheriam sagt, dass sich die Aiel zurückziehen, Moiraine«, sagte Siuan aufgeregt und rückte die Ledertasche an ihrem Riemen zurecht. »Sie sagt, sie sind Meilen östlich vom Fluss.«
Sheriam nickte und wollte sich den anderen anschließen, aber Moiraine erwischte noch einen Zipfel ihres Umhangs.
»Seid Ihr sicher?« Moiraine wäre beinahe zusammengezuckt. Wäre sie nicht so müde gewesen, hätte sie ihre Worte mit größerer Sorgfalt gewählt; man erfuhr nichts, wenn man jemand von Anfang an verärgerte.
Glücklicherweise war das Temperament der schlanken Aufgenommenen nicht im Mindesten so, wie ihr Haar und die schräg stehenden grünen Augen hätten vermuten lassen. Sie seufzte bloß und schaute sehnsuchtsvoll zur Tür, die aus der Galerie führte. »Ich habe es zuerst von einem Burgwächter gehört, der es von einem Kurier, einem Shienarer, erfahren hat, aber später haben es mir dann Serafelle, Ryma und Jennet erzählt. Eine Schwester mag sich irren, aber wenn drei dir etwas erzählen, dann kann man sicher sein, dass es stimmt.« Sie war eine nette Gefährtin, um einen Abend auf erfreuliche Weise zu verbringen, aber sie hatte die Neigung, ganz normale Behauptungen wie Lektionen klingen zu lassen. »Warum grinst ihr beide wie alberne Gänse?«, wollte sie plötzlich wissen.
»Ich wusste nicht, dass ich grinse«, erwiderte Siuan und glättete sogleich ihre Züge. Sie erschien noch immer eifrig und stellte sich auf die Zehen, als wollte sie loslaufen.
»Ist die Gelegenheit für einen Ausflug aufs Land nicht Grund genug für ein Grinsen?«, fragte Moiraine. Vielleicht konnten sie ihre Eskorte jetzt davon überzeugen, sie in die Lager in unmittelbarer Nähe des Drachenbergs zu bringen. Sie war sich nicht sicher, wann sie angefangen hatte, Siuans Ansichten zu teilen, aber sie tat es jetzt. Sie würden ihn als Erste finden. Irgendwie würde es ihnen gelingen. Ein Grinsen? Sie hätte laut lachen und tanzen können.
»Manchmal seid ihr beiden wirklich seltsam«, sagte Sheriam. »Ich bin so sattelwund, dass ich fast humpeln muss. Nun, ihr könnt gern hier stehen bleiben und
Weitere Kostenlose Bücher