Das Rad der Zeit 10. Das Original: Zwielichtige Pfade (German Edition)
sorgen, dass nicht ein Fitzelchen Papier die Bibliothek ohne ihr Wissen verließ. Alviarin griff nach der Macht, um einen der hohen, mit Schnitzereien verzierten Türflügel aufzustoßen, bevor sie ihn erreichte, und ließ ihn an seinen Bronzeangeln offen stehen, als sie die breite Marmortreppe hinuntereilte. Der breite, von Eichen gesäumte Steinpfad, der zu dem riesigen weißen Turm führte, war freigeschaufelt worden, aber wäre das nicht der Fall gewesen, hätte sie die Macht benutzt, um den Schnee vor ihr zu schmelzen, und sollte jeder denken, was er wollte. Mesaana hatte es kristallklar gemacht, welchen Preis man für das Risiko zahlte, dass jemand das Gewebe für das Schnelle Reisen lernte oder auch nur erfuhr, dass sie es kannte, sonst wäre Alviarin von dieser Stelle aus Gereist. Mit dem Turm in Sicht, der über den Bäumen aufragte und im blassen Morgenlicht funkelte, hätte sie mit einem Schritt da sein können. Stattdessen kämpfte sie gegen das Bedürfnis an zu rennen.
Es war keine Überraschung, die breiten, hohen Korridore des Turms verlassen vorzufinden. Ein paar Diener mit der weißen Flamme von Tar Valon auf der Brust machten ihre Knickse und Verbeugungen, als sie vorbeiging, aber sie waren so unwichtig wie die Zugluft, die die vergoldeten Kandelaber flackern ließ und die hellen Wandteppiche an den schneeweißen Wänden bewegte. In diesen Tagen blieben die Schwestern so weit möglich in den Quartieren ihrer eigenen Ajah, und es hätte ihr auch nichts genutzt, einer Aes Sedai zu begegnen, von der sie wusste, dass sie eine Schwarze Ajah war – es hätte schon ein Mitglied ihres eigenen Herzens sein müssen. Alviarin kannte sie alle, aber die anderen kannten sie nicht. Außerdem würde sie sich keinem offenbaren, wenn sie es nicht musste. Vielleicht würden einige dieser wunderbaren Instrumente aus dem Zeitalter der Legenden, von denen Mesaana immer sprach, ihr eines Tages erlauben, jede Schwester auf der Stelle zu befragen – falls die Frau sie jemals besorgte –, aber jetzt musste man noch immer verschlüsselte Befehle auf Kopfkissen oder an geheimen Stellen hinterlassen. Was ihr einst wie augenblickliche Erwiderung vorgekommen war, kam ihr jetzt unendlich langsam vor. Ein stämmiger, kahlköpfiger Diener, der sich verbeugte, schluckte deutlich hörbar, und sie glättete ihre Züge. Sie war stolz auf ihre eiskalte Gleichgültigkeit und zeigte immer eine kühle, glatte Oberfläche. Sich mit finsterer Miene ihren Weg durch den Turm zu bahnen würde ihr nicht das Geringste bringen.
Es gab jemanden im Turm, von dem sie genau zu wissen glaubte, wo sie ihn finden würde, jemand, von dem sie Antworten verlangen konnte, ohne sich darüber Sorgen machen zu müssen, was die Frau wohl dachte. Natürlich war auch hier eine gewisse Vorsicht angebracht – sorglose Fragen enthüllten mehr, als die meisten Antworten wert waren –, aber Elaida würde ihr alles sagen. Mit einem Seufzen erklomm Alviarin die erste Stufe.
Mesaana hatte ihr von einem anderen Wunder aus dem Zeitalter der Legenden erzählt, das sie sehr gern sehen würde, ein Ding namens »Aufzug«. Die fliegenden Maschinen klangen natürlich viel großartiger, aber es war viel einfacher, sich einen mechanischen Apparat vorzustellen, der einen von einer Etage zur nächsten brachte. Sie wusste nicht, ob sie wirklich glauben sollte, dass es Gebäude gegeben hatte, die die mehrfache Höhe des Turms der Weißen Burg aufwiesen – auf der ganzen Welt kam nicht einmal der Stein von Tear an die Höhe des Turms heran –, aber allein das Wissen um diese »Aufzüge« ließ das Erklimmen der spiralförmigen Gänge und breiten Treppen mühsam erscheinen.
In der dritten Etage blieb sie vor dem Studierzimmer der Amyrlin stehen, aber wie erwartet waren beide Räume leer, die freigeräumten Schreibtische auf Hochglanz poliert. Die Räume selbst erschienen karg ohne Wandbehänge oder Verzierungen, hier gab es nur Tische und Stühle und Stehlampen. Elaida kam nur noch selten aus ihren Gemächern in der Nähe der Turmspitze nach unten. Das war früher durchaus akzeptabel erschienen, da es die Frau noch mehr vom Rest der Burg isolierte. Nur wenige Schwestern stiegen freiwillig so hoch. Doch als Alviarin heute endlich die achtzig Spannen erklommen war, dachte sie ernsthaft darüber nach, Elaida dazu zu zwingen, nach unten zu kommen.
Elaidas Vorzimmer war natürlich leer, auch wenn eine Mappe mit Papieren auf dem Schreibtisch bedeutete, dass jemand da gewesen war.
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