Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
man musste sich gern beklagen. Während der ersten Monate ihres Aufenthalts bei den Feuchtländern hatte sie das als entehrend empfunden. War es diesem Wächter denn völlig egal, dass er vor seinem Kameraden das Gesicht verlor, indem er allen seine Schwäche zeigte?
Sie waren alle so, selbst Elayne. Wenn man ihr zuhörte, wie sie sich über die Schmerzen, Übelkeit und Einschränkungen ihrer Schwangerschaft beklagte, hätte man glauben können, dass sie dem Tod immer näher kam! Aber wenn sich ausgerechnet Elayne beklagte, dann weigerte sich Aviendha, es als Zeichen der Schwäche zu akzeptieren. Ihre Erstschwester würde sich nicht so ehrlos benehmen.
Also musste darin irgendwo eine verborgene Ehre liegen. Vielleicht enthüllten die Feuchtländer ihren Kameraden ihre Schwächen ja, um Freundschaft und Vertrauen anzubieten. Wenn deine Freunde deine Schwächen kannten, würde ihnen das helfen, sollte man zusammen den Tanz der Speere tanzen. Aber vielleicht war dieses ständige Klagen auch nur die Art der Feuchtländer, Demut zu zeigen, so wie die Gai’shain durch ihre Unterwürfigkeit Ehre bewiesen.
Elayne hatte sie ihre Theorien vorgetragen und nur ein Lachen voller Zuneigung geerntet. War das ein Aspekt der Feuchtländergesellschaft, den ihre Erstschwester nicht mit Außenseitern besprechen durfte? Oder hatte Elayne gelacht, weil sie etwas herausgefunden hatte, das sie nicht hätte herausfinden dürfen?
Was nun auch zutraf, es war offensichtlich eine Methode, Ehre zu zeigen, und das hatte Aviendha zufriedengestellt. Wäre ihr Problem mit den Weisen Frauen doch nur so simpel gewesen! Von Feuchtländern erwartete man, dass sie auf unvorhersehbare, unnatürliche Weise handelten. Aber was sollte sie machen, wenn sich die Weisen Frauen so seltsam verhielten?
Langsam verspürte sie Unmut – nicht wegen der Weisen Frauen, sondern mit sich selbst. Sie war stark und mutig. Natürlich nicht so mutig wie andere; sie konnte nur davon träumen, so mutig wie Elayne zu sein. Trotzdem fielen ihr nur wenige Probleme ein, die sie nicht mit dem Einsatz ihrer Speere, der Einen Macht oder ihrem Verstand hätte lösen können. Und doch hatte sie völlig darin versagt, ihre derzeitige Misere zu entschlüsseln.
Sie erreichte die andere Seite des Lagers und legte ihren Stein ab, rieb sich die Hände sauber. Die Töchter standen reglos und nachdenklich da. Aviendha ging zu dem anderen Haufen und nahm einen länglichen Stein mit kantigem Rand. Er war drei Handspannen breit, und die glatte Oberfläche drohte ihr aus den Fingern zu rutschen. Sie musste mehrmals umgreifen, bevor sie einen guten Halt gefunden hatte. Sie ging zurück über das zertrampelte Wintergras, vorbei an den saldaeanischen Zelten in Richtung Herrenhaus.
Elayne wäre bestimmt der Ansicht gewesen, dass sie das Problem nicht richtig durchdacht hatte. Wo andere Leute nervös waren, war Elayne ruhig und nachdenklich. Manchmal ging es Aviendha auf die Nerven, wie gern ihre Erstschwester über die Dinge redete, bevor sie sich zu einer Handlung entschloss. Ich muss mehr wie sie sein. Ich darf nicht vergessen, dass ich keine Tochter des Speers mehr bin. Ich kann nicht mit erhobener Waffe irgendwo reinstürmen.
Sie musste Probleme auf Elaynes Weise angehen. Nur so würde sie ihre Ehre zurückgewinnen, und erst dann konnte sie Rand al’Thor für sich beanspruchen und ihn genauso zu einem Teil von sich machen, wie Elayne oder Min es getan hatten. Sie konnte ihn durch den Bund fühlen; er war in seinem Zimmer, aber er schlief nicht. Er trieb sich hart an und schlief zu wenig.
Der Stein rutschte in ihren Fingern, und beinahe wäre sie gestolpert, als sie ihn neu fasste und mit ihren müden Armen fester hielt. Ein paar von Basheres Soldaten passierten sie und musterten sie verständnislos, und sie errötete. Obwohl die Männer vermutlich gar nicht wussten, dass sie bestraft wurde, war sie vor ihnen entehrt worden.
Wie würde Elayne diese Situation lösen? Die Weisen Frauen waren wütend auf sie, weil sie nicht »schnell genug lernte«. Gleichzeitig gaben sie ihr aber keinen Unterricht. Sie stellten bloß diese Fragen. Fragen über ihre Einschätzung der Situation, Fragen über Rand al’Thor oder über die Weise, wie Rhuarc die Besprechung mit dem Car’a’carn gemeistert hatte.
Aviendha konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass die Fragen eine Prüfung darstellten. Gab sie die falschen Antworten? Und wenn es so war, warum zeigte ihr keiner die richtigen Antworten?
Die
Weitere Kostenlose Bücher