Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
armen Jungen zu Heilen hörte sich gut an – schließlich sollte jede Verletzung behandelt werden. Aber etwas zu versuchen, das sie noch nie zuvor getan hatte, und das auch noch vor Rand zu tun, war nicht besonders verlockend. Was, wenn sie es falsch anstellte und den Jungen dabei irgendwie verletzte?
Rand setzte sich auf die Polsterbank, die gegenüber von dem Jungen stand, und Min kam herbei und setzte sich neben ihn. Sie betrachtete ihren Tee mit einer Grimasse; offensichtlich war er genauso schlecht geworden wie Nynaeves.
Rand sah Nynaeve abwartend an.
»Ich …«
»Versuch es einfach«, sagte er. »Ich kann dir nicht sagen, wie man das genau macht, nicht einer Frau, aber du bist schlau. Ich bin sicher, du schaffst das.«
Sein unbeabsichtigt gönnerhafter Ton fachte ihren Zorn erneut an. Ihre Müdigkeit war auch nicht gerade hilfreich. Mit zusammengebissenen Zähnen wandte sie sich Kerb zu und webte alle Fünf Mächte. Seine Blicke schossen überallhin, auch wenn er die Gewebe nicht sehen konnte.
Nynaeve legte ein ausgesprochen leichtes Heilgewebe über ihn, was ihn sich versteifen ließ. Dann webte sie einen separaten Strang Geist und begab sich so vorsichtig wie möglich mit der Tiefenschau in seinen Kopf und stieß gegen die Gewebe, die seinen Verstand einhüllten. Ja, jetzt konnte sie es sehen, ein kompliziertes Netz aus Geist, Luft und Wasser. Ihrem geistigen Auge bot sich ein schrecklicher Anblick, wie es kreuz und quer über das Gehirn des Jungen lief. Stücke des Gewebes gruben sich winzigen Haken gleich tief in das Gehirn hinein.
Dreh das Gewebe um, hatte Rand gesagt. Das war einfacher gesagt als getan. Sie würde das Netz aus Zwang Schicht für Schicht abtragen müssen, und wenn sie dabei einen Fehler machte, konnte sie ihn sehr leicht umbringen. Um ein Haar wäre sie zurückgewichen.
Aber wer hätte es sonst machen sollen? Zwang war ein verbotenes Gewebe, und sie bezweifelte, dass Corele oder eine der anderen damit Erfahrung hatten. Hörte sie jetzt auf, würde Rand einfach nach den anderen schicken und sie darum bitten. Und sie würden ihm gehorchen und insgeheim über Nynaeve lachen, die Aufgenommene, die sich für eine richtige Aes Sedai hielt.
Nun, sie hatte neue Methoden des Heilens entdeckt! Sie hatte dabei geholfen, die Eine Macht vom Makel selbst zu reinigen! Sie hatte Gedämpfte Geheilt!
Sie konnte das.
Sie arbeitete schnell, webte ein Spiegelbild der ersten Schicht Zwang. Jede Anwendung der Macht entsprach exakt den bereits im Verstand des Jungen gewebten Mustern, nur eben umgedreht. Nynaeve legte ihr Gewebe vorsichtig und zögernd auf, und wie Rand gesagt hatte, verschwanden sie beide.
Wie hatte er das wissen können? Sie musste daran denken, was Semirhage über ihn gesagt hatte, und schauderte. Erinnerungen aus einem anderen Leben; Erinnerungen, zu denen er kein Recht hatte. Es gab einen Grund, warum der Schöpfer ihnen erlaubte, ihre früheren Leben zu vergessen. Kein Mensch sollte sich an das Scheitern von Lews Therin Telamon erinnern müssen.
Sie kümmerte sich um eine Schicht nach der anderen und entfernte die Zwanggewebe wie ein Feldscher einen Verband von einem verwundeten Bein. Es war eine anstrengende Arbeit, aber erfüllend. Jedes Gewebe richtete ein Unrecht, Heilte den Jungen ein Stück mehr, machte die Welt ein kleines bisschen zu einem besseren Ort.
Es nahm den größten Teil einer Stunde in Anspruch, und es war eine zermürbende Erfahrung. Aber sie tat es. Als die letzte Schicht Zwang verschwand, stieß sie ein erschöpftes Seufzen aus und ließ die Eine Macht los, überzeugt, keinen weiteren Strang mehr lenken zu können, und wenn es ihr Leben gerettet hätte. Sie schwankte zu einem Stuhl und ließ sich daraufsacken. Min hatte sich neben Rand auf der Bank zusammengerollt und war eingeschlafen.
Er schlief nicht. Der Wiedergeborene Drache beobachtete sie, als könnte er Dinge sehen, die ihr verborgen blieben. Er stand auf und ging zu Kerb hinüber. In ihrem benommenen Zustand war Nynaeve gar nicht das Gesicht des jungen Kerzenmachers aufgefallen. Es war seltsam ausdruckslos, wie das einer Person, die von einem heftigen Schlag auf den Kopf benommen war.
Rand ließ sich auf ein Knie nieder, nahm das Kinn des Jungen in die Hand und starrte ihm in die Augen. »Wo?«, fragte er leise. »Wo ist sie?«
Der Junge öffnete den Mund, ein Speichelfaden rann heraus.
»Wo ist sie?«, wiederholte er.
Kerb stöhnte. Seine Augen blickten noch immer ins Leere, seine Zunge
Weitere Kostenlose Bücher