Das Rad der Zeit 12. Das Original: Sturm der Finsternis (German Edition)
teilte seine Lippen einen Spalt.
»Rand!«, sagte Nynaeve. »Hör auf! Was tust du ihm an?«
»Ich habe nichts getan«, sagte Rand leise, ohne sie anzusehen. »Das hast du getan, Nynaeve, indem du diese Gewebe aufgelöst hast. Graendals Zwang ist mächtig – aber in mancherlei Hinsicht auch primitiv. Sie füllt einen Verstand in einem solchen Ausmaß mit Zwang, dass Persönlichkeit und Intellekt vollkommen ausgelöscht werden. Es bleibt nur eine Marionette übrig, die nur durch ihre direkten Befehle funktioniert.«
»Aber er hat doch noch vor wenigen Augenblicken auf uns reagiert!«
Rand schüttelte den Kopf. »Wenn du die Männer im Kerker fragst, werden sie dir sagen, dass er nur selten mit ihnen sprach und irgendwie zurückgeblieben erschien. Da war keine echte Person in seinem Kopf, nur Schichten aus Zwanggewebe. Befehle, die geschickt so gestaltet waren, dass sie jede Persönlichkeit ausradierten, die der arme Kerl hatte, und sie durch eine Kreatur ersetzten, die nur nach Graendals Wünschen handelte. Ich habe das Dutzende Male erlebt.«
Dutzende Male?, dachte Nynaeve beklommen. Hast du es erlebt oder Lews Therin? Welche Erinnerungen beherrschen dich jetzt, in diesem Augenblick?
Von Übelkeit erfüllt sah sie Kerb an. Seine Augen waren nicht ausdruckslos, weil er benommen war; sie waren noch viel leerer. Als Nynaeve noch jünger gewesen war und die Stellung der Dorfheilerin noch nicht lange innegehabt hatte, da hatte man ihr eine Frau gebracht, die von einem Wagen gefallen war. Die Frau hatte tagelang geschlafen, und als sie endlich erwacht war, da hatte sie den gleichen glasigen Blick gehabt. Kein Anzeichen, dass sie jemanden erkannte, kein Hinweis, dass in der Hülle ihres Körpers noch der Rest einer Seele war.
Eine Woche später war sie gestorben.
Rand redete wieder auf Kerb ein. »Ich brauche einen Ort«, sagte er. »Irgendetwas. Wenn da drinnen noch ein Rest von dir ist, der Widerstand geleistet hat, der sich gegen sie gewehrt hat, dann verspreche ich dir Vergeltung. Einen Ort. Wo ist sie?«
Speichel tropfte von den Lippen des Jungen. Sie schienen zu beben. Rand stand auf, bis er ihn überragte, ohne den Blickkontakt zu brechen. Kerb zitterte, dann flüsterte er zwei Worte.
»Natrins Hügel.«
Rand atmete leise aus, dann ließ er Kerb mit einer beinahe andächtigen Bewegung los. Der Junge rutschte von der Bank zu Boden, sabberte auf den Teppich. Nynaeve fluchte, sprang auf und schwankte etwas, als sich der Raum plötzlich drehte. Beim Licht, war sie erschöpft! Sie blieb stehen, schloss die Augen und holte ein paarmal tief Luft. Dann kniete sie neben dem Jungen nieder.
»Das kannst du dir sparen«, sagte Rand. »Er ist tot.«
Nynaeve vergewisserte sich. Dann fuhr ihr Kopf herum. Welches Recht hatte Rand, so erschöpft auszusehen, wie sie sich fühlte? Er hatte doch so gut wie nichts getan. »Was hast du …«
»Ich habe nichts getan, Nynaeve. Nachdem du den Zwang entfernt hast, hat ihn vermutlich nur sein tief verwurzelter Zorn auf Graendal am Leben erhalten. Was auch immer noch von seiner Persönlichkeit übrig war, es wusste, dass es nur noch zu diesen beiden Worten fähig war, um helfen zu können. Danach ließ er einfach los. Wir konnten nichts mehr für ihn tun.«
»Das akzeptiere ich nicht«, sagte Nynaeve verbissen. »Man hätte ihn Heilen können!« Sie hätte ihm helfen müssen! Graendals Zwang ungeschehen zu machen hatte sich so gut, so richtig angefühlt! Es hätte nicht so enden dürfen!
Sie fühlte sich beschmutzt. Benutzt. In welcher Hinsicht war sie besser als der Kerkermeister, der so schreckliche Dinge getan hatte, um an Informationen zu kommen? Sie starrte Rand böse an. Er hätte ihr sagen können, was die Entfernung des Zwangs anrichtete!
»Sieh mich nicht so an, Nynaeve.« Er ging zur Tür und bedeutete den Töchtern, Kerbs Leiche wegzubringen. Sie trugen ihn fort, während Rand nach einer frischen Kanne Tee rief.
Er kehrte zurück, setzte sich neben die schlafende Min auf die Bank; sie hatte sich eines der hier liegenden Kissen unter den Kopf gestopft. Eine der beiden Lampen im Zimmer brannte niedrig, was die Hälfte seines Gesichts in Schatten tauchte. »Es konnte sich nur so abspielen«, fuhr er fort. »Das Rad webt, wie es das Rad will. Du bist eine Aes Sedai. Ist das nicht eines deiner Bekenntnisse?«
»Ich weiß nicht, was es ist«, fauchte Nynaeve, »aber das ist keine Entschuldigung für dein Verhalten.«
»Welches Verhalten?«, fragte er. »Du hast
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