Elfenkuss
Eins
L aurels Schuhe trommelten einen fröhlichen Rhythmus, der keineswegs ihrer Stimmung entsprach. Neugierige Blicke folgten ihr, als sie durch die Flure der Del Norte Highschool ging.
Nach genauer Prüfung ihres Stundenplans suchte Laurel erfolgreich den Bioraum und setzte sich schnell ans Fenster. Wenn sie schon drin sein musste, wollte sie wenigstens rausschauen können. Als ihre Mitschüler in den Klassenraum schlurften, warf ein Junge ihr ein Lächeln zu, während er nach vorne ging. Sie zwang sich zurückzulächeln und hoffte, dass es nicht nur eine Grimasse geworden war.
Ein großer, magerer Mann, der sich als Mr James vorstellte, teilte Bücher aus. Laurel fing sofort an zu blättern: Die ersten Seiten sahen ganz normal aus – Einordnung von Pflanzen und Tieren, das konnte sie -, dann folgte menschliche Anatomie. Ab Seite 80 verstand sie nur noch Bahnhof. Laurel grummelte, das Halbjahr würde sich hinziehen.
Als Mr James die Anwesenheit abfragte, kamen Laurel einige Namen aus den ersten beiden Stunden bekannt vor, aber es würde noch lange dauern, bis sie
die Namen den Gesichtern zuordnen konnte. Sie fühlte sich von Fremden umzingelt.
Ihre Mutter hatte auf sie eingeredet, dass sich alle am ersten Schultag an der Highschool so fühlten, aber außer ihr sah keiner verloren oder verängstigt aus. Vielleicht hatten sie sich schon in ihrer Grundschulzeit an die Schule gewöhnt.
In den letzten zehn Jahren war Laurel zufrieden damit gewesen, zu Hause unterrichtet zu werden. Sie hätte gerne so weitergemacht, aber ihre Eltern wollten in der Erziehung ihres einzigen Kindes alles richtig machen. Als sie fünf war, entschieden sie sich für den Privatunterricht in der Kleinstadt. Jetzt, mit fünfzehn, hieß es plötzlich Highschool in einer etwas größeren Stadt.
Es wurde still, und Laurel wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Lehrer ihren Namen wiederholte.
»Laurel Sewell?«
»Hier«, antwortete sie rasch.
Sie wand sich, als Mr James sie über den Brillenrand musterte, bevor er den Nächsten aufrief.
Laurel, die die Luft angehalten hatte, atmete erleichtert aus und holte ihr Heft heraus, wobei sie sich um größtmögliche Unauffälligkeit bemühte.
Während der Lehrer den Ablauf des Lehrplans vortrug, schaute Laurel immer wieder zu dem Jungen, der sie vorhin angelächelt hatte. Sie musste ein Grinsen unterdrücken, weil auch er sie mehrmals verstohlen ansah.
Als Mr James sie in die Mittagspause entließ, verstaute Laurel erleichtert ihr Buch im Rucksack.
»Hallo.«
Sie hob den Blick. Vor ihr stand der Junge, der sie beobachtet hatte. Als Erstes fielen ihr seine Augen auf: Sie waren strahlend blau und passten so gar nicht zu seiner olivfarbenen Haut. Die Farbe sah verkehrt aus, aber nicht schlecht. Irgendwie exotisch. Er trug die leicht welligen hellbraunen Haare lang, sie fielen ihm schwungvoll in die Augen.
»Du bist Laurel, stimmt’s?« Unter den Augen entdeckte sie sein warmes lockeres Lächeln und sehr schöne Zähne. Wahrscheinlich hatte er eine Zahnspange , dachte Laurel und fuhr sich unbewusst über die eigenen ebenso geraden Zähne. Sie hatte Glück, ihre Zähne waren von Natur aus so.
»Ja.« Ihre Stimme war rau, sie hustete und kam sich blöd vor.
»Ich heiße David. David Lawson. Ich wollte nur – Hallo sagen. Und willkommen in Crescent City, sozusagen.«
Laurel zwang sich wieder zu einem Lächeln. »Danke.«
»Möchtest du dich beim Mittagessen zu mir und meinen Freunden setzen?«
»Wo denn?«
David sah sie seltsam an. »Äh, wie wär’s in der Cafeteria?«
»Oh«, erwiderte sie enttäuscht. Er sah ganz nett aus, aber sie hielt es drinnen nicht mehr aus.
»Also, ich möchte lieber rausgehen«, sagte sie. »Trotzdem vielen Dank.«
»Klingt gut. Kann ich mitkommen?«
»Meinst du das ernst?«
»Klar. Ich habe mein Mittagessen dabei, es kann gleich losgehen. Außerdem«, sagte er, während er sich den Rucksack über die Schulter warf, »wäre es doch blöd, an deinem ersten Tag ganz allein zu sein.«
»Danke«, sagte sie nach einem Moment des Zögerns, »das ist nett.«
Sie gingen auf die Wiese hinter der Schule und ließen sich auf einem Rasenstück nieder, wo es nicht ganz so feucht war. Laurel breitete ihre Jacke aus und setzte sich hin. David behielt die Jacke an und fragte mit einem skeptischen Blick auf ihre kurze Jeans und das Tanktop: »Ist dir nicht kalt?«
Laurel streifte die Schuhe ab und grub ihre Zehen in das saftige Gras. »Mir wird nicht so
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