Das Rätsel deiner Leidenschaft
fahren und wartete darauf, dass er für den Abend ausging. Dass er das vorhatte, wusste sie, weil er seine Kutsche hatte vorfahren lassen.
Madigans Zettel hatte ihr nicht viel Aufschluss über den besagten Engländer, einen gewissen Maxwell Barrett, Marquess of Lindberg, gegeben. Sie wusste nur, wo er wohnte und dass er im Besitz der legendären Karte von Atlantis war. Madigan hatte Mr Barrett einige Monate beobachtet, doch wie sich herausstellen sollte, war der Mann recht geheimnisvoll.
Madigan hatte gesagt, Barrett wäre nicht an einem Verkauf der Karte interessiert, was Sabine nur zwei Möglichkeiten offen ließ – sie konnte in das Haus des Mannes einbrechen und die Karte stehlen. Im Prinzip könnte sie argumentieren, dass die Karte ihr und ihrem Volk gehörte, aber sie bezweifelte, dass sie damit bei den Behörden durchkommen würde, sollte sie erwischt werden.
Oder sie könnte versuchen, diesen Mr Barrett zu überreden, ihr einen Blick auf die Karte zu gestatten. Letzteres war einer Gefängniszelle natürlich vorzuziehen. Außerdem konnte man die Welt nicht vor einer vorausgesagten Katastrophe retten, wenn man im Gefängnis saß. Doch wenn sich ihre heutigen Bemühungen als kompletter Fehlschlag erweisen sollten, würde sie auf jeden Fall den Diebstahl in Betracht ziehen. Eine Frau musste tun, was sie tun musste.
Mr Barrett gehörte zur vornehmen Gesellschaft Londons, was eigentlich nur bedeuten konnte, dass er ein Gentleman war. Und da sie die Bekanntschaft dieses Mannes machen musste, schien ihr der heutige Abend dazu ebenso geeignet wie jeder andere, zumal sie nicht über den Luxus von viel Zeit verfügte. Denn wenn die uralte Prophezeiung bereits ihren Anfang genommen hatte, war das Stundenglas umgedreht worden, und die Sandkörnchen rieselten unaufhaltsam hindurch. Doch ohne den vollständigen Wortlaut der Prophezeiung zu kennen, kämpften sie mit verbundenen Augen, wie Madigan ganz richtig gesagt hatte.
Wenn Sabine einen Mann dazu bringen wollte, ihr einen Wunsch zu erfüllen, so verfügte sie über gewisse Vorteile, die sie nutzen konnte. Einer war Schönheit. Obwohl Sabine nur sehr ungern die Rolle der Verführerin spielte, hatte sie sich heute Abend dennoch bemüht, sich dementsprechend zu kleiden. Sie trug ein Kleid aus feinster elfenbeinfarbener Seide, das dem Engländer bestimmt gefallen würde. Es passte ihr wie angegossen, was an sich schon bemerkenswert war, wenn man bedachte, dass sie es direkt aus dem Schaufenster eines Geschäfts erstanden hatte. Kurze, hauchdünne Spitzenärmel bedeckten ihre Oberarme nur knapp, dazu trug sie bis zum Ellbogen reichende Satinhandschuhe. Das großzügige Dekolleté des Kleids hob ihre Brüste an und presste sie zusammen, sodass sie den Stoff buchstäblich zu sprengen drohten.
Von Calliope hatte sie sich das Haar zu duftigen kleinen Locken aufstecken lassen, die gerade eben ihre Schultern streiften und deren Zartheit noch betonten. Sie sah ganz und gar wie eine englische Lady aus. Unwillkürlich griff Sabine nach der Kette an ihrem Hals. Sie mochte einem Betrachter wie eine schlichte Goldkette erscheinen, doch unter dem Ausschnitt ihrer Abendrobe verborgen hing eine Glasphiole daran, die eine kleine Menge des Elixiers enthielt. Agnes hatte es ihr vor Monaten gegeben und sie angewiesen, es immer bei sich zu haben.
Von ihrem Beobachtungspunkt aus sah Sabine jetzt einen Mann aus dem Haus kommen. Er trug einen langen schwarzen Mantel, der sich um seine breiten Schultern spannte, und setzte sich einen Zylinder auf, ehe er in die wartende Kutsche stieg. Kaum dass seine Kutsche sich in Bewegung gesetzt hatte, wies Sabine ihren Fahrer an, ihr nachzufahren.
Sie hatte noch keine Vorstellung davon, wie sie Zutritt zu einem Ball, einer Soiree, oder wo auch immer er hingehen mochte, erlangen sollte, da sie keine Einladung vorweisen konnte. Aber vielleicht würden ihr hübsches Kleid und ein charmantes Lächeln genügen, um ihr Einlass zu verschaffen. Sie hielt den Blick auf die voranfahrende Kutsche gerichtet, um den englischen Gentleman nicht zu verlieren. Aber ihr Kutscher war geschickt und blieb dicht hinter ihm. Sie wünschte nur, sie hätte Mr Barretts Gesicht gesehen, denn da alle wohlhabenden Männer solche Mäntel und Zylinder trugen, war es eher unwahrscheinlich, dass sie ihn in einer Menge erkennen würde. Es dauerte weniger als zwanzig Minuten, bis sie vor einem dreistöckigen roten Ziegelbau anhielten. Mr Barrett stieg aus der Kutsche und verschwand
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