Das Raetsel der Liebe
wohnten dort in einem von Nonnen geführten Sanatorium. Ich wusste nicht, wo ich sonst hätte hingehen sollen. Zurück nach London konnte ich auf keinen Fall. Also schickte ich eine Nachricht an meine Großmutter, teilte ihr mit, dass ich nach Lyon kommen würde und setzte mich in den Zug. Ich … ich habe mich nicht einmal von Greta verabschiedet.«
»Hast du sie jemals wiedergesehen? Oder ihn?«
»Nein. Niemals. Bis heute.«
»Was geschah, als du in Lyon ankamst?«
»Am Bahnhof wartete mein Vater auf mich.«
»Dein …«
»Er war zwei Wochen vor mir eingetroffen, um meine Mutter zu besuchen. Ich wusste nichts davon.«
Und dann war es plötzlich, als wäre Lydia nicht mehr hier in diesem Raum bei Alexander. Beißender Kohlengeruch hing in der Luft, das schrille Kreischen des haltenden Zuges ertönte, alles war erfüllt von den Stimmen der Passagiere und den Rufen der Gepäckträger und Händler, die ihre Dienste und Waren entlang des Bahnsteigs feilboten.
Und dort stand ihr Vater und erwartete sie, ohne auch nur das Geringste von ihrer Schande zu ahnen. Seine Brille saß wie gewöhnlich ganz vorne auf der Nasenspitze. Das dünne Drahtgestell wirkte überaus zerbrechlich. Sein Mantel flatterte ihm um die Beine wie Krähenflügel. Kummerfalten furchten seine Stirn; er sorgte sich um seine Frau, seine Schwiegermutter, seine Tochter.
»Was ist los?«, fragte Sir Henry. »Was ist passiert?«
Außerstande, die Frage zu beantworten, warf sie sich in seine Arme und schmiegte sich ganz fest an ihn, erfüllt von dem schrecklichen Gedanken, dass es das letzte Mal sein könnte, dass er sie niemals wieder umarmen würde.
Und so war es auch gekommen. Doch – und dafür hatte Lydia dem lieben Gott im Himmel wohl an die tausendmal gedankt und ihrem Vater noch viel, viel öfter – Sir Henry Kellaway hatte niemals einen Hehl aus seiner Zuneigung zu Jane gemacht. Im Gegenteil. Er hatte das Mädchen vom Tage seiner Geburt an zutiefst geliebt.
»Hast
du
es ihm gesagt?«, fragte Alexander.
»Nein, eigentlich erzählte ich es meiner Mutter.« Sie lachte angesichts der blanken Absurdität dieser Feststellung humorlos auf. »Ich weiß nicht, warum. Ich hatte sie mehrere Jahre nicht gesehen. Ich glaube, sie wusste nicht mal, dass ich da war. Aber ich hatte das brennende Bedürfnis, irgendjemandem die Wahrheit zu sagen, egal wem. Also setzte ich mich eines Nachts auf ihr Bett und gestand ihr alles.«
»Hat sie darauf in irgendeiner Weise reagiert?«
»Nein. Ich dachte, sie hätte es nicht mal gehört. Aber am nächsten Tag erzählte sie es meinem Vater.«
»Was?«
»Sie hatte
alles
gehört. Und sogar verstanden. Sie wiederholte meinem Vater jedes einzelne Wort. In dieser Nacht stellte er mich zur Rede, und ich musste es zum zweiten Mal beichten.«
»Was tat er?«
Lydia schwieg.
Wenn p eine Primzahl ist, dann gilt für jede natürliche Zahl a, dass a
p
– a ohne Rest durch p teilbar ist. Sinus zweimal Theta ist gleich zweimal …
Nein.
Energisch schob sie die mathematischen Beweise, die Theoreme, Identitäten und Gleichungen beiseite. Schob alles weg, was einen logischen Sinn ergab. Zwang sich, den finsteren Erinnerungen ins Gesicht zu blicken. Auf ihrer linken Wange begann ein alter, nie ganz verblasster Schmerz zu brennen.
»Er war außer sich. Er …« Sie fasste sich an die Wange und erschauerte, als die Erinnerung sie überwältigte. Der Schmerz des Schlages, der Schock ihres Vaters angesichts seiner eigenen Unbeherrschtheit, ihre tiefe Überzeugung, dass sie jede Form von Strafe verdiente, die er an ihr vollziehen würde.
Doch nichts dergleichen geschah – der eine Schlag ins Gesicht seiner eigenen Tochter hatte genügt, um Sir Henry zu Stein erstarren zu lassen. Drei Tage lang sprach er kein einziges Wort mit ihr, sah sie nicht einmal an. Dann, eines Morgens, riefen er und Charlotte Boyd Lydia zu sich in einen kleinen privaten Raum und erklärten ihr kalt und ohne jegliche Regung, dass sie die Wahl hätte: Entweder hielt sie sich an den Plan, den sie beide gefasst hätten, oder sie wäre in Zukunft ganz auf sich allein gestellt.
»Die Idee stammte von meiner Großmutter«, fuhr sie fort. »Sie sagte, wir würden fürs Erste im Sanatorium bleiben. Ich glaube, sie und mein Vater hätten mich am liebsten sofort verstoßen. Aber sie hatten feststellen müssen, dass ich die einzige Person war, die es geschafft hatte, zu meiner Mutter durchzudringen – wenn auch mit solch einem schmutzigen Geheimnis. Also wies
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