Das Raetsel der Liebe
Studium der Mathematik als Bestandteil einer liberalen Erziehung.
Alexander legte die Bücher wieder auf den Stapel, dann hob er den Kopf. Miss Kellaway beobachtete ihn unter gesenkten Wimpern hervor. Sie nagte immer noch an ihrer Unterlippe.
»Lesen Sie auch noch etwas anderes außer Abhandlungen über Mathematik?«
»Ja, gelegentlich. Magazine, Bücher.«
»Petrarca?«
Ein überraschtes Blinzeln. »Wie bitte?«
»Sie lesen Petrarca, oder nicht? Shakespeare? Homers
Ilias
?«
»Wie kommen Sie –« Ihr Gesicht nahm einen bestürzten Ausdruck an, und sie wich zurück. »Sie haben mein Notizbuch gelesen?«
»Eher nicht. Denn hätte ich es
gelesen
, würde dies implizieren, ich hätte es verstanden. Dem ist aber nicht so. Was mir allerdings auffiel, waren ihre Anmerkungen bezüglich einiger großer Liebesgeschichten.«
»Lord Northwood, das ist eine grobe Verletzung meiner Privatsphäre!«
»Mmm. So wie Sie die meine verletzten, als Sie um Mitternacht in mein Haus stürmten? Oder die Klatschgeschichten über mich aufspürten? Oder sich wie eine Diebin in Mr Havers Laden schlichen und sich illegalerweise meinen Namen aus seinem Kassenbuch besorgten?«
»Nun, ich –« Auf ihren Wangen erschienen zwei vollkommen identische, kreisrunde rosa Flecke, und Alexander fragte sich, ob es auf der ganzen weiten Welt wohl noch eine Frau gab, die so oft errötete wie Miss Kellaway.
Sie räusperte sich verlegen und nestelte an der Brosche, die sie am hohen Halsausschnitt ihres Kleides trug. »Ich meine, ich hatte nicht vor –«
»Jedenfalls«, fiel Alexander ihr ins Wort, »will es sich mir nicht recht erschließen, was an ein paar hingekritzelten Namen und Gleichungen so privat sein soll. Ich meine, wenn Sie erotische Gedichte verfasst hätten oder –«
»Lord Northwood.« Trotz der Tatsache, dass ihr Teint jetzt tiefrosa war, hob sie den Kopf und sah ihm direkt in die Augen. »Zufälligerweise glaube ich daran, dass romantische Beziehungen auf einer mathematischen Grundlage beruhen.«
Er starrte sie verblüfft an. Diese Eröffnung überraschte ihn genauso, als hätte sie ihm soeben gestanden, dass sie in der Tat erotische Gedichte schrieb – nur in einem anderen Notizbuch.
»Eine mathematische Grundlage für romantische Beziehungen?«, wiederholte er völlig verständnislos.
»Ein Verhaltensmuster, ja. Ich verwende historische Beispiele wie Romeo und Julia, Tristan und Isolde, Helena und Paris und so weiter, um meine Thesen zu überprüfen und Beweise aufzustellen.«
Sie meinte es tatsächlich ernst. Da stand sie, presste ihr verfluchtes Notizbuch an die Brust, klapperte unschuldig mit den Wimpern, und der Blick aus ihren blauen Augen war ohne jeden Arg.
»Beweise … wofür?«, gelang es ihm zu fragen.
»Muster von Anziehung und Abstoßung. Laura zum Beispiel. Obgleich sie eine verheiratete Frau war und seine Annäherungsversuche standhaft zurückwies, hörte Petrarca nicht auf, ihr nachzustellen. Er schrieb ihr Sonette. Ich glaube, ich kann die Beziehung zwischen diesen beiden beschreiben, indem ich ihren Gefühlen verschiedene Variable zuordne und Differenzialgleichungen bilde.«
Alexander war sprachlos. Die Frau versuchte wahrhaftig, Liebe in Zahlen auszudrücken.
»Lydia, ich dachte, du wolltest –«
Beide drehten sich gleichzeitig zu der älteren Frau um, die, begleitet vom Klacken ihres Gehstocks mit Elfenbeingriff, ins Zimmer kam und in einiger Entfernung stehen blieb.
»Großmama, das ist Viscount Northwood.« In Lydias Stimme lag eine kaum wahrnehmbare Enttäuschung. »Lord Northwood, meine Großmutter, Mrs Charlotte Boyd.«
»Mrs Boyd.« Alexander nickte der Angesprochenen höflich zu und versuchte, sich seine Verärgerung über die Störung nicht anmerken zu lassen. Wie in drei Teufels Namen konnte man Liebe in Zahlen ausdrücken? »Es ist mir ein Vergnügen.«
»Lord Northwood.« Mrs Boyd sah von ihm zu Lydia und wieder zu ihm. In ihrem Blick lag etwas Abschätzendes, Berechnendes. »Lydia hat mir gebeichtet, dass sie Sie … zu Hause belästigt hat.«
In der Tat.
»Ich bitte Sie in aller Form für diese Dreistigkeit um Entschuldigung«, fuhr sie fort.
»Dazu besteht keinerlei Anlass, Mrs Boyd. Miss Kellaway und ich sind zu einer Übereinkunft gelangt.« Er blickte kurz zu Lydia hinüber.
»Ach ja?« Mrs Boyds Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Und darf ich fragen, um welche Art von Übereinkunft es sich handelt?«
»Im Grunde ist es keine große Sache«, warf Lydia
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