Das Raetsel der Liebe
ganz versessen darauf, die Ehre seiner Familie wiederherzustellen. Das ist einer der Gründe, warum er so hart für die Royal Society of Arts arbeitet und so viel für die Organisation der geplanten Bildungsausstellung tut. Er ist nicht nur Vizepräsident der Gesellschaft, sondern auch Direktor der Ausstellung. Darüber hinaus hat er diverse Anstrengungen unternommen, um eine angemessene eheliche Verbindung für seine Schwester zu arrangieren.«
Aha. Dies war höchstwahrscheinlich der Grund, warum die junge Frau gestern Nacht so aufgebracht aus dem Haus gestürmt war.
»Ich bin überzeugt, ihm wird Erfolg beschieden sein«, erwiderte Lydia. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Lord Northwood irgendetwas, das er sich vornahm, nicht gelang.
»Allerdings«, fuhr Mrs Boyd fort, »habe er bisher kein Interesse erkennen lassen, eine Frau für sich selbst zu finden, heißt es.«
»Und?«
»Einigermaßen seltsam, findest du nicht? Schließlich ist er derjenige, der einen Erben zeugen muss. Andererseits, so vermute ich, ist ihm sehr wohl bewusst, dass keine von den höhergestellten Familien eine ihrer Töchter mit ihm verheiratet sehen möchte. Nicht nach dem so überaus bedauerlichen Verhalten seiner Mutter. Und vor allem nicht jetzt, nachdem Lord Chilton darauf bestanden hat, dass seine Tochter die Verlobung mit ihm löst.«
Anspannung kroch Lydias Wirbelsäule hinauf. »Was willst du damit sagen?«
»Ich will gar nichts sagen, Lydia«, erwiderte Mrs Boyd. »Angesichts der Tatsache, dass du dich unterstanden hast, ihn
ohne Begleitung
aufzusuchen, teile ich dir lediglich alles mit, was mir über den Mann bekannt ist. Ich hoffe doch sehr, dass dir Janes Ausbildung genauso sehr am Herzen liegt wie dieses alberne Medaillon.«
Lydia musste angesichts dieses abrupten Themenwechsels verwundert blinzeln.
»Aber natürlich«, stimmte sie zu. »Jane und ihre Ausbildung bedeuten mir alles. Du weißt das.« Sie spürte, wie sich ihre Nackenmuskeln verspannten. »Wie kommst du auf die Idee, es könnte anders sein?«
»Ich weiß, dass du sie gern hast, Lydia. Und du hast –«
»
Gern hast
?« Guter Gott. Wusste ihre Großmutter denn nicht, dass sie Jane Tag für Tag mehr liebte, mit jedem Atemzug, jedem Herzschlag?
»Und du hast das bisher gut gemacht mit ihr«, fuhr Mrs Boyd fort. »Sie ist zwar immer noch ein wenig unbekümmert, doch abgesehen davon ein wohlerzogenes Mädchen mit guten Manieren und Sinn für Respekt. Trotzdem ist es nun an der Zeit, dass sie eine andere Art von Unterricht bekommt. Dass sie Dinge lernt, die ihr einen Platz in der feinen Gesellschaft sichern.«
»Aber sie entwickelt sich doch prächtig unter meiner Anleitung. Wir haben angefangen, die
Odyssee
zu lesen. Wir beschäftigen uns mit den Ländern, die zum Empire gehören, sie lernt Bruchrechnen und Algebra –«
»Lydia, Jane braucht Anleitung durch Lehrer, die rein intuitiv weit bessere gesellschaftliche Umgangsformen beherrschen als du. Wenn sie einmal vorteilhaft heiraten soll, muss sie die notwendigen Anstandsregeln lernen.«
»Aber sie ist noch nicht mal zwölf«, protestierte Lydia. »Ich selbst habe nicht einen einzigen Gedanken an Etikette oder, Gott bewahre, das Heiraten verschwendet, bevor ich aufs Internat kam.«
»Nun, vielleicht hättest du ja früher damit anfangen sollen.« Ihre Großmutter hielt kurz inne, und als sie weitersprach, lag geschliffene Schärfe in ihrer Stimme. »Strengere Disziplin hätte dir vermutlich ganz gut getan.«
Lydia zuckte zusammen und umklammerte mit einer Hand die Lehne eines Stuhls.
Cosinus Theta plus Gamma ist gleich Cosinus Theta mal Cosinus Gamma plus Sinus Theta mal Sinus Gamma.
»Ich weiß, wir haben darüber gesprochen, sie nach Queens Bridge zu schicken. Aber selbst mit dem Geld, das wir für das Medaillon bekommen haben, ist es zu teuer …« Lydia versagte die Stimme. Etwas im Gesicht ihrer Großmutter löste einen Anflug von Panik in ihr aus.
»Ich habe die Angelegenheit mit Mrs Keene besprochen, deren Meinung ich überaus schätze und der ich vorbehaltlos vertraue«, erklärte Mrs Boyd. »Mrs Keene hat eine verwitwete Tante, Lady Montague. Die Baronin wohnt in Paris, und ihr verstorbener Gatte hinterließ ihr sowohl sein Vermögen als auch seinen guten Namen. Mrs Keene korrespondierte mit ihr über eine Mädchenschule, die sie soeben im Viertel St. Germain eröffnet hat.«
»Nein.«
Mrs Boyd presste die Lippen fest aufeinander. »Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt,
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