Das Raetsel der Liebe
vibrierte wie die Saiten einer Violine. Keine Gleichung der Welt konnte diese Art von Wonne beschreiben. Kein Lehrsatz der Welt konnte Lord Northwoods Bedürfnis erklären, sie zu berühren. Es war beinahe mit Händen zu greifen gewesen, so stark, dass sie es hatte spüren können, obwohl sie weit weg von ihm auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers gestanden hatte.
Sie schob ihre Aufzeichnungen beiseite und ging nach unten. Die Unruhe in ihr, die Hitze, heraufbeschworen durch die Erinnerungen, waren ihre eigene Schuld. Energisch verschloss sie ihr Verlangen in die tiefsten Tiefen ihres Inneren und sperrte es so zu all den anderen Fehlern, die dort unter der Kruste der Zeit verborgen lagen.
Die Tür zum Arbeitszimmer ihres Vaters stand halb offen, also klopfte sie an, bevor sie eintrat. Der Anblick von Sir Henrys Schreibtisch aus Zedernholz und der mit unzähligen Abhandlungen über chinesische Geschichte und den Werken chinesischer Literatur vollgestopften Bücherregale schnürte ihr die Kehle zu. Ihr war, als läge hier immer noch ein Hauch des süß-herben Duftes seines Pfeifentabaks in der Luft. An den Wänden hingen Federzeichnungen und Gemälde aus der Tang-Dynastie. Sie zeigten Reiter auf munteren Pferden, nebelverhangene Bergspitzen und zierliche Eisvögel.
Am Fenster, in die Ecke eines Sofas gekuschelt, saß Jane, auf dem Schoß ein Buch über Schmetterlinge. Lydia ließ sich neben ihr nieder, zog das Mädchen an sich und gab ihm einen Kuss auf das weiche, braune Haar. Die engen Klammern, die ihr Haar umschlossen, lösten sich ein wenig, als sie den frischen Duft von Pfirsichseife einatmete.
»Geht es dir gut?«, fragte sie.
»Ich vermisse ihn so.«
»Ich auch.«
Gemeinsame Erinnerungen legten sich um die beiden wie ein wärmender Mantel – Sir Henry, wie er ihnen geduldig beibrachte, chinesische Schriftzeichen zu malen, ihnen Geschichten von den vielen Reisen seiner Jugend erzählte, mit ihnen Rätsel löste und Spiele spielte.
Während Lydias Kindheit hatte ihr Vater den größten Teil seiner Zeit auf Reisen oder mit seiner Arbeit verbracht. Trotzdem war er all die Jahre auch immer um ihr Wohl besorgt gewesen und hatte in seiner Unterstützung für ihre Ausbildung niemals nachgelassen. Nach Janes Geburt hatte er das Reisen aufgegeben und sich nur noch der Lehre und seinen Studien gewidmet. Seine stille, von Ernsthaftigkeit erfüllte Gegenwart hatte Lydia nach einer einsamen Kindheit und dem Tod ihrer Mutter unglaublich gut getan.
Jane – und dafür war Lydia unendlich dankbar – hatte dagegen immer nur die beständige Liebe und Hingabe Sir Henrys erlebt.
Jane klappte ihr Buch zu und legte den Kopf an Lydias Schulter. »Denkst du, Grandma wird mich wirklich wegschicken?«
Lydia sah ihre Schwester an. »Woher weißt du das?«
»Ich konnte nicht schlafen. Da bin ich die Treppe runter, um mir ein Glas Milch zu holen. Ich habe gehört, wie ihr im Salon miteinander gesprochen habt.«
»Du hättest uns nicht belauschen dürfen.«
»Würdest du etwa nicht lauschen, wenn du jemanden über dich reden hörst?«
Lydia kicherte. Da war etwas dran. »Doch, vermutlich schon.«
»Glaubst du, sie wird es tun?«, fragte Jane noch einmal. »Glaubst du, sie wird mich auf diese Schule in Paris schicken?«
Lydia suchte nach einer passenden Antwort. Sie durfte Großmutters Autorität nicht untergraben, aber lügen konnte sie auch nicht. Also entschied sie sich, der Frage auszuweichen.
»Wie würdest du dich denn fühlen, wenn sie es täte?«
Als Jane nichts erwiderte, wurde Lydia das Herz schwer. Am liebsten wäre ihr gewesen, Jane hätte ohne Umschweife gesagt, dass sie nicht gehen wolle. Doch ihre Schwester gehörte nun mal zu den Menschen, die immer erst sorgfältig nachdachten, bevor sie antworteten.
»Ich weiß es nicht«, sagte Jane schließlich. »Ich würde dich natürlich schrecklich vermissen, und unser Haus auch. Aber es ist … ich meine, eigentlich fahren wir niemals irgendwo
hin
, verstehst du?«
»Das stimmt nicht ganz. Wir –«
»Doch, es stimmt, Lydia.« In Janes Stimme schwang Enttäuschung mit. »Der einzige Ort, den ich außerhalb von London kenne, ist Brighton. Wir haben diesen Ausflug gemacht, weißt du noch? Paris wäre zumindest interessant.«
»Ja, wäre es«, räumte Lydia ein. Trotzdem spürte sie, wie ihr Herz versteinerte.
»Und außerdem würde ich gerne Klavierspielen lernen und Französisch, ehrlich gesagt.« Jane wandte den Kopf und sah Lydia direkt an. »Oh,
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