Das Raetsel der Liebe
Lyddie, ich wollte dich nicht traurig machen.«
»Hast du nicht.« Lydia umarmte ihre Schwester. »Ich verstehe, was du meinst. Als ich ein paar Jahre älter war als du, ging ich auch weg, um zu lernen. Nach Deutschland.«
»Hat es dir gefallen?«
Lydias Magen zog sich zusammen. Die Erinnerung an dieses eine Jahr trug sie in sich wie einen Diamanten – strahlend, kalt und hart. Einerseits hatte sie sich in dieser Zeit für Dinge geöffnet, die sie sich niemals hätte vorstellen können. Andererseits … hatte sie damals sich selbst zerstört und die, die ihr am nächsten standen.
»Es gefiel mir, neue Dinge zu lernen«, sagte sie. »Alles war so anders, so interessant. Aber leicht war es nicht. Ich sprach nur wenig Deutsch. Ich fand nicht viele Freunde. Ich vermisste mein Zuhause. Ich fühlte mich oft einsam.«
Ich war einsam.
Lydia war schon einsam gewesen, bevor Sir Henry zugestimmt hatte, sie nach Deutschland zu schicken. Ihre Großmutter musste sich um ihre Mutter kümmern, ihr Vater war entweder auf Reisen oder beschäftigt … Einsamkeit war in der Tat ihr einziger Begleiter gewesen.
Bis
er
kam. Der Mann mit den kalten, grünen Augen und der verdorbenen Seele. Sie erschauerte.
»Was ist passiert, während du dort warst?«, fragte Jane.
»Was –«
»Ich habe gehört, wie du zu Grandma gesagt hast, dass sie dich für etwas bestrafen will, das passiert ist. War das in Deutschland? Was war es?«
Panik stieg in Lydia hoch. Sie legte den Arm ganz fest um Jane und küsste sie noch einmal aufs Haar. »Nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest. Das ist alles lange her.«
Sie gab ihre Schwester frei und erhob sich. »Würdest du gerne das Diorama in Regent’s Park sehen? Heute Nachmittag? Es hat erst letzte Woche eröffnet.«
»Oh ja, bitte!« Jane strahlte.
»Gut. Dann laufe jetzt nach oben und beende deinen Aufsatz in Geografie. Wir gehen nach dem Mittagessen.«
Jane stürmte aus dem Zimmer.
Lydia nahm das Buch zur Hand, das auf dem Sofa liegen geblieben war. Vielfarbige Schmetterlinge leuchteten ihr von den einzelnen Seiten entgegen, jede Abbildung ausgearbeitet bis ins feinste Detail. Zwischen den letzten Seiten lugte ein gefaltetes Blatt Papier hervor. Lydia schob es wieder an seinen Platz zurück.
Sie versuchte, sich ein Leben ohne Jane vorzustellen. Es gelang ihr nicht. Sicher, da war ihre Arbeit. Doch abgesehen davon hatte sich beinahe alles, was sie in den vergangenen elf Jahren getan hatte, um ihre Schwester gedreht.
Sie durfte Jane nicht verlieren. Noch nicht jetzt. Nicht einmal, wenn Jane gehen
wollte
.
Als sie gemeinsam aus der Kutsche stiegen und in die kalte Nachtluft hinaustraten, schloss Talias Hand sich so fest um Alexanders Arm, dass sich ihre Fingerspitzen hart hineinbohrten. Er wandte sich zu seiner Schwester um und ignorierte den plötzlichen Anfall von Reue, der ihn bei ihrem Anblick überkam. In dem blassblauen Seidenkleid, das haselnussbraune Haar zu einer perfekten Frisur aufgesteckt, sah sie zugleich reizend und zerbrechlich aus.
Sie hatte ein bisschen zu viel Reispuder aufgelegt, was ihren Zügen ein kühles, maskenhaftes Aussehen verlieh.
Er legte seine Hand auf ihre. »Talia, es nützt überhaupt nichts, wenn du dich aufführst, als wärst du auf dem Weg zum Galgen.«
»Fünfhundert Pfund, Alex. Ich habe Mr Sewell vom Schulkomitee gesagt, dass er am Montag einen Scheck von dir bekommt.«
»Ich lege noch hundert Pfund drauf, wenn du wenigstens so tun könntest, als ob du dich amüsierst.«
Sie lockerte ihren Griff, als versuche sie ganz bewusst, sich zu entspannen. »Falls Lord Fulton hier sein sollte, gehe ich auf der Stelle.«
»Was ist mit Fulton?«, wollte Sebastian wissen, der nach ihnen aus der Kutsche geklettert war.
»Alex hat letzte Woche gegenüber seiner Lordschaft den Eindruck erweckt, ich sei offen für einen Heiratsantrag«, erwiderte Talia.
Sebastian gab ein Geräusch von sich, das eine Mischung zwischen Prusten und Lachen war. »Fulton? Guter Gott, Alex, was willst du denn
damit
erreichen? Dass unsere Talia schnurstracks in ein Kloster geht?«
»Ich muss schon sagen, diese Idee finde ich weitaus attraktiver als Lord Fulton«, stimmte Talia, die sich zu Sebastian umgewandt hatte, ihrem jüngeren Bruder zu. »Dein Bruder hat sich die Freiheit genommen, Lord Fulton seinen Vorschlag zu unterbreiten, ohne ihn vorher mit mir zu besprechen.« Sie schoss einen vernichtenden Blick auf Alexander ab. »Höchstwahrscheinlich, weil ihm klar war, wie
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