Das Raetsel der Liebe
Janes Kopf hinweg aus dem Fenster. »Alles wäre anders«, wiederholte sie. Ihr Körper versteifte sich. Jane runzelte die Stirn und drückte die Hand ihrer großen Schwester ganz fest.
Eine seltsame, unangenehme Empfindung keimte in ihr auf – das Gefühl, Lydia wolle sich vielleicht gar nicht vorstellen, wie anders alles gekommen wäre, wäre ihre Mutter nicht gestorben.
Die Luft im Gewächshaus war feuchtheiß und stickig. Plötzlich fand Alexander seine Krawatte zu eng, seinen Mantel zu schwer. Er widerstand dem Drang, den Hemdkragen zu lockern, während er durch die Reihen blühender Pflanzen schritt, bis ganz nach hinten, wo sein Vater stand und nachdenklich einen Topf Erde betrachtete.
»Sir.« Alexander blieb in einiger Entfernung stehen. Ein altbekanntes Gefühl überkam ihn – eine seltsame Mischung aus Stolz und Unzulänglichkeit, deren tiefere Schichten er niemals zu ergründen gedachte. Dieses Gefühl stellte sich in Gegenwart von Lord Rushton immer ein, solange er zurückdenken konnte, eine Tatsache, die ihn seit dem letzten Streit mit seinem Vater nur noch mehr ärgerte.
Rushton hob den Kopf. »Northwood. Was führt dich her?«
»Was hast du über den Krieg gehört?«
»Das, was du auch gehört hast.«
»Der Earl of Clarendon behält sich für den Fall, dass tatsächlich eine offizielle Kriegserklärung ausgesprochen werden sollte, das Recht vor, jeden Engländer, der in Russland wohnt, als Staatsfeind zu betrachten«, erklärte Alexander. »Ich habe eine Nachricht nach Sankt Petersburg geschickt und Darius darüber informiert, obgleich ich vermute, dass er es bereits weiß.«
Der Earl stellte mit einem verdrossenen Schnaufen den Blumentopf beiseite und nahm eine Wasserkanne zur Hand. Er trug einen einfachen schwarzen Mantel, darunter eine ebensolche Weste – für Firlefanz und Glitzer hatte der Earl noch nie etwas übrig gehabt – und sein bleigraues Haar zeigte noch die Spuren des Kamms. Obwohl er mit seinem kräftigen Oberkörper und den breiten Schultern immer noch sehr imposant wirkte, war seine Gestalt doch während der letzten beiden Jahre dünner geworden, sein Gesicht hager und von Sorgenfalten zerfurcht.
»Dein Bruder hegt keinerlei Absichten, seine Pläne zu ändern«, sagte er.
»Ich weiß. Aber wenn du ihm schreiben würdest, wäre er vielleicht eher bereit, die Folgen zu bedenken.«
»Wenn er weiterhin bei Hofe wohnen bleibt«, meinte Rushton, »ist er dort weniger in Gefahr, als er es hier wäre.«
»Ich bin überzeugt, dass Darius ganz gut auf sich selbst aufpassen kann, ob er nun bei Hofe wohnt oder nicht. Abgesehen davon mache ich mir Sorgen wegen der Folgen, die das alles für uns hier haben könnte.«
»Als da wären?«
»Zum einen Talia. Sie ist im heiratsfähigen Alter, und sie –«
»Genau wie du.« Sein Vater schoss einen bedeutungsvollen Blick auf ihn ab.
»Aber Talia ist –«
»Lass das Mädchen in Ruhe, Northwood. Es ist der Mangel an eigenen Aussichten, der dir Sorgen machen sollte, besonders nach dem Chilton-Debakel.«
Verbitterung stieg in Alexander hoch. Sie alle hatten mit den Peinlichkeiten leben müssen, die auf seine geplatzte Verlobung gefolgt waren. Angesichts dieser Katastrophe auf der einen und dem Weggang ihrer Mutter auf der anderen Seite fiel es schwer zu glauben, irgendeinem der Halls würde es gelingen, eine vorteilhafte Ehe zu schließen. Das musste selbst Lord Rushton zugeben.
Da Alexander jedoch nicht wusste, wie er den Vorwurf seines Vaters entkräften sollte, entschied er sich, das Thema zu wechseln. »Talia hat den Wunsch geäußert, wieder einmal Floreston Manor zu besuchen.«
Rushtons Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ich hätte dieses unselige Anwesen schon vor Jahren verkaufen sollen.«
»Das würde sie dir niemals verzeihen.« Keiner von ihnen hatte das Herrenhaus mehr besucht, seit ihre Mutter auf und davon war. Doch Alexander wusste, dass es der einzige Ort war, an dem Talia sich als Kind glücklich gefühlt hatte.
Schon damals war seine Schwester ihm ein Rätsel gewesen – ein Kind mit bronzefarbenem Haar, das durch die Flure von Floreston Manor und die Gärten von Sankt Petersburg huschte wie ein Waldgeist.
Er seufzte. Daran hatte sich nichts geändert, im Gegenteil, auch wenn ihre elfenhafte Jenseitigkeit vom Gewicht der vielen dunklen Schatten, die auf ihrer Seele lasteten, beinahe erdrückt wurde.
»Sebastian hat zugestimmt, uns zu begleiten, falls du gewillt bist, das Haus wieder zu öffnen«, fuhr er
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