Das Raetsel von Flatey
passiert.«
Kjartan
zögerte.
»Ja, nun mach schon, es dauert
auch gar nicht lange«, sagte Kolk barsch.
»Probieren kann man es ja
mal«, sagte Kjartan und kniete sich neben Kolk hin, der
daraufhin den Kopf mit dem Arm fest an sich drückte. Kjartan
spürte einen stechenden Geruch von Wolle, vermischt mit
starkem Körpergeruch. Er bekam kaum noch Luft und stand kurz
davor aufzugeben. Aber dann war ihm plötzlich, als käme
er in eine andere Dimension. Die Luft, die er einatmete, war
plötzlich süß und frisch, und den Arm spürte
er gar nicht mehr. An der kleinen Böschung unten am Strand sah
er kleine Lichtblitze, die jeweils für eine kurze Zeit
menschliche Züge annahmen. Das Ganze hatte nur ein paar
Sekunden gedauert, aber im Nachhinein kam es ihm so vor, als ob es
viel länger gewesen sei. Aber Kormákur Kolk lockerte
schließlich die Umklammerung. Er schien währenddessen
den Atem angehalten zu haben. Als sich die Vision aufgelöst
hatte, war auf einmal auch der Sauerstoff weg. Kjartan sank
erschöpft zu Boden und saß mit von sich gestreckten
Beinen da.
Kormákur Kolk fragte nicht, ob
der Versuch Erfolg gezeitigt habe. Er schien zu wissen, dass es der
Fall gewesen war. Kjartan saß benommen im Gras und versuchte,
dieses Erlebnis einzuordnen.
»Du wirst ein glücklicher
Mensch werden, mein Freund«, sagte Kolk schließlich.
»Das Leben war bislang nicht einfach für dich, aber das
liegt jetzt alles hinter dir. Heute Nacht habe ich geträumt,
dass ich auf ein Nest mit schönen Eiern gestoßen bin. Es
hat sich immer herausgestellt, dass das für eine Hochzeit in
meiner näheren Umgebung steht. Du solltest dich mit unserer
lieben Jóhanna zusammentun, mein Lieber, und das wird dir
zum Glück gereichen.«
»Sie hat vielleicht auch ein
Wort dazu zu sagen«, antwortete Kjartan.
»Manchmal hält das
Schicksal etwas Gutes für einen bereit, mein Freund, und dann
gibt’s nur einen Rat, sich nicht dagegen zu sträuben.
Ich habe Jóhanna bereits darum gebeten, auf dich
aufzupassen, und sie hat das ziemlich gut aufgenommen. Jetzt
brauchst du dich bloß noch ihr gegenüber wie ein
Kavalier zu verhalten, und dann kommt das in ein paar Monaten ganz
von selbst. Ich spüre da ein starkes Band zwischen euch. Ich
habe schon früher junge Leute auf so etwas hingewiesen, und
das hat ihnen immer zum Glück
gereicht.«
Kormákur Kolk drehte sich um
und schaute auf das Dorf. Högni kam gerade aus der hohlen
Gasse heraus und brachte eine kleine Tasche mit.
Kormákur Kolk sagte:
»Also schön. Jetzt heißt es wohl an Bord gehen.
Sie wollen so gegen zwei auslaufen. Grímur hat Högni
gebeten, mich und Jón Ferdinand zu begleiten. Högni
kennt sich in Reykjavík aus und wird uns auf dieser Reise
zur Seite stehen. Darüber bin ich sehr, sehr
froh.«
Sie gingen hinunter zur Straße
und begrüßten Högni.
»Kommst du nicht auch mit nach
Reykjavík, mein lieber Vize-Bezirksamtmann?«, fragte
Högni.
»Nein, ich brauche jetzt erst
mal eine Mütze Schlaf. Grímur wird mich morgen
früh nach Brjánslækur bringen, und von dort werde
ich mit einem Auto aus Patreksfjörður abgeholt. Dann kann
ich mich vielleicht endlich mit den Grundbucheintragungen
befassen.«
»Du glaubst also, dass es jetzt
keine weiteren Leichenfunde mehr geben wird?«, fragte
Högni ironisch.
Kjartan schüttelte den Kopf.
Über diese Bemerkung konnte er nicht einmal
lächeln.
Högni schaut auf Kolk.
»Also los geht’s, mein Lieber. Wir dürfen das
Schiff nicht auf uns warten lassen.«
Es war schon Morgen, als das
Gespräch zwischen Jóhanna und Kjartan endlich zu Ende
war. Sie sprachen über das Ereignis, das sie beide vor vielen
Jahren aus der Bahn geworfen hatte. Sie vergossen Tränen
zusammen und sie verziehen. Sie waren immer noch jung und hatten
nicht vor, noch länger in der Vergangenheit zu
leben.
Bevor sie die Bibliothek
verließen, legten sie die Blätter des
Flatey-Rätsels zurück in die Munksgaard-Ausgabe.
Ænigma Flateyensis sollte weiterhin ein ungelöstes
Rätsel bleiben. Die tragischen Ereignisse, die sie bei der
Lösung erlebt hatten, sollten nicht mit diesem alten
Rätsel in Verbindung gebracht werden. Beide wünschten
sich, dass diese Ereignisse in Frieden ruhen sollten. Weder Gaston
Lund noch Björn Snorri hatten das Glück genießen
können, die Lösung vor Augen zu haben, und deswegen war
es besser, dass das Rätsel unter anderen und
glücklicheren Umständen von jemand anderem gelöst
würde.
Nebel und Nieselregen
Weitere Kostenlose Bücher