Das Raetsel von Flatey
nach. Das war wohl eine Art Schicksalsglaube, und
es konnte möglicherweise beruhigend sein, in den Widrigkeiten
des Lebens darauf zurückzugreifen, aber er zog es vor, nach
anderen Regeln zu leben. Er holte sein Notizbuch aus der Tasche und
betrachtete das Bild, das er auf Ketilsey skizziert hatte.
»Wahrscheinlich ist es Lund gelungen, die Lösung in
Ketilsey fertig zu stellen, und da er nichts zu schreiben hatte,
reihte er die Steine so auf, um die Strophe zu vollenden. Deswegen
stand da das Wort Glücksstern. Es war also keineswegs ein
Bootsname oder ein Stiername. Ich schäme mich eigentlich ein
bisschen, weil ich beinahe einen Aufruhr verursacht hätte,
indem ich das Boot von Sigurbjörn in Svalbard mit dem
Schicksal von Gaston Lund in Verbindung brachte. Und dann habe ich
sogar angedeutet, dass Guðrún von Innerhof die
Kindsmutter von Gaston Lund gewesen sei und dass ihr Sohn in die
Sache verwickelt war. Glücklicherweise hat Grímur mich
zur Vernunft gebracht und mir geraten zu
schweigen.«
»Ja, das war gut.
Guðrúns Sohn ist nicht der Sohn von Gaston Lund. Das
Kind, das Gaston Lund nicht anerkennen wollte, ist ein ganz anderer
Mann«, sagte Jóhanna ...
Siebenundfünfzig
Grímur, Kjartan und Nonni gingen gemeinsam ins Dorf, und
Grímur weckte seine Frau. Sie machte sich sofort daran,
sowohl Essen auf den Tisch zu bringen als auch eine alte Keksdose
mit Proviant zu füllen. Der Junge blieb bei Ingibjörg,
während Grímur und Kjartan sich zum Bootshafen
begaben.
Sie schwiegen beide und dachten umso
mehr nach. Als sie ins Boot geklettert waren, kurbelte
Grímur den Motor an. Das Motorengeräusch klang
unnatürlich laut in der Morgenstille. Sogar die Vögel auf
Hafnarey waren um diese Tageszeit noch friedlich.
Grímur steuerte zunächst
in südwestliche Richtung, dann nahm er Kurs nach Südosten
aus den Schären hinaus aufs offene Meer, vorbei am Kai mit dem
Küstenwachboot.
Nach langem Schweigen ergriff
Grímur das Wort: »Wie bist du bloß darauf
gekommen, den Jungen zu fragen, ob er ein Fernglas
besitzt?«
Kjartan zögerte ein wenig, bevor
er antwortete: »Das war irgendwie eine Eingebung. Am
Donnerstag, als wir losfuhren, um die Leiche von Ketilsey
abzuholen, sahen wir den Jungen unterhalb des Hofs am Strand. Ich
bemerkte, dass er irgendetwas Blinkendes an die Augen hielt.
Später fiel mir dann ein, dass es ein Fernglas gewesen sein
könnte. Und dann erinnerte ich mich, dass Lund ein Fernglas
und einen Fotoapparat im Handgepäck dabeigehabt hatte, aber
nichts davon war aufgetaucht. Da konnte ein Zusammenhang bestehen.
Deswegen habe ich den Jungen gefragt.«
Grímur nickte. »Meiner
Meinung nach liegt jetzt alles einigermaßen klar zutage. Der
Professor hat sich zu lange im Arzthaus aufgehalten und nicht auf
die Uhr geachtet. Er glaubte, dass er noch Zeit hätte, um noch
einmal in die Bibliothek zu gehen, aber als er endlich zur
Brücke kam, war das Postschiff abgedampft. Er hat es
wahrscheinlich noch in der Ferne gesehen. Es pressierte ihm aber
sehr, nach Stykkishólmur und nach Reykjavík zu
kommen, weil er den Rückflug nach Kopenhagen nicht verpassen
wollte. Auf dem Kai waren Jón Ferdinand und der kleine Nonni
bei ihrem Boot, und Lund gab ihnen zu verstehen, dass er unbedingt
nach Stykkishólmur müsse. Wahrscheinlich hat er es so
dringend gemacht und den Alten so unter Druck gesetzt, dass dieser
mit dem Passagier losgefahren ist. Wahrscheinlich ist es aber
viele, viele Jahre her, dass Jón Ferdinand nach
Stykkishólmur gefahren ist. Unterwegs hat er wieder alles
vergessen und Kurs auf Ketilsey genommen, denn auf dieser Route
kannte er sich am besten aus. Lund ist nichts Ungewöhnliches
aufgefallen, weil Ketilsey in südöstlicher Richtung
liegt, und für einen Fremden ist das so ungefähr die
Richtung nach Stykkishólmur. In der Nähe von Ketilsey
ist dann wohl der Sprit ausgegangen, und sie mussten das letzte
Stück rudern. Lund ist an Land gegangen, um zu sehen, ob die
Insel bewohnt ist, während Jón Ferdinand auf dem Boot
blieb. Nach einiger Zeit hat der Alte aber komplett vergessen, dass
er einen Passagier dabeihatte, er weiß nur noch, dass er mit
leerem Tank in Ketilsey ist und wieder nach Hause muss. Dann dreht
der Wind auf Süd, und es gibt keine Zeit zu verlieren. Er
zieht das Segel auf und macht sich wieder auf den Weg nach Flatey.
Lund bleibt auf der Insel zurück, und sein Ende wissen
wir.«
Kjartan sagte nichts, nickte aber
zustimmend. Das waren so ungefähr auch seine
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