Das Raetsel von Flatey
während der Fangsaison«, erklärte
Grímur und nahm sich ein ordentliches Stück.
»Dazu Kartoffeln, wenn sie zu haben
sind.«
Kjartan schnitt sich einen winzigen
Happen von einem Stück ab und legte es auf seinen Teller. Dann
nahm er sich noch eine Kartoffel.
Die Hausfrau kam mit einem
Stielpfännchen, in dem es brutzelte.
»Hier kommt das Griebenschmalz,
das gehört dazu«, verkündete
Grímur.
Kjartan probierte nur ein winziges
Stückchen von dem Fleisch, aß aber die ganze Kartoffel.
Högni schaute ihm neugierig zu und sagte schließlich mit
vollem Mund: »Ich hab schon mal einen Mann getroffen, der
weder Seehund noch Kormoran essen wollte, aber komischerweise
futterte er Hühnerfleisch und fand das
lecker.«
Högni beschäftigte sich
wieder mit seinem Teller und achtete darauf, sich die Bissen so zum
Munde zu führen, dass nichts in seinem markanten Schnauzbart
landete.
Von der Küchentür aus
verfolgte die Frau des Hauses alles mit.
»Schmeckt es dir nicht, mein
Lieber?«, fragte sie freundlich, als Kjartan sich nicht
anschickte, noch einmal zuzulangen.
»Ich habe kaum Appetit nach der
Überfahrt«, antwortete er und trank einen Schluck
Wasser, das einen merkwürdigen Beigeschmack
hatte.
»Du lieber Himmel, wo bin ich
bloß mit meinen Gedanken? Ich schau gleich mal nach, ob ich
nicht etwas finde, was besser in einen seekranken Magen
passt.« Sie verschwand in der Küche.
Grímur deutete zum Fenster
hinaus.
»In dem Haus dort hinten wohnt
der Arzt. Unser Arzt ist zurzeit eine Frau und heißt
Jóhanna. Sie lebt dort mit ihrem Vater, einem alten,
bettlägerigen Mann, der aber enorm beschlagen ist. Der
Ärmste hat hochgradig Krebs. Einige sagen, er sei hierher
gekommen, um zu sterben. Tja, er hätte sich kaum einen
besseren Platz dazu aussuchen können. Ich bin der Meinung,
dass es von hier aus nicht weit zum Himmel ist. Unsere
Jóhanna hält sich ein bisschen für sich, aber als
Ärztin ist sie hervorragend. Hinter dem Arzthaus ist unser
neues Gefrierhaus. Das sieht man nicht von hier aus. Und noch
weiter draußen liegt die Endenkate, das ist der letzte
Torfbauernhof auf der Insel. Da wohnen die drei Einsiedler, die die
Leiche gefunden haben. Sie betreiben eigentlich keine richtige
Landwirtschaft mehr, außer dass sie ein paar Kartoffeln
anbauen. Sie haben aber die Nutzungsrechte für Ketilsey und
die umliegenden Schären. Viel zu holen ist da nicht, das ist
eine ziemliche Hökerwirtschaft bei denen. Es ist ganz
schön weit bis zu der Insel, und die Eiderentenbrutplätze
werfen nicht sonderlich viel ab. Aber ein paar Seehunde fangen sie
immer, und außerdem gibt’s dort Papageitaucher. Und
wenn das Gefrierhaus in Betrieb ist, fahren sie mit ihren
Handleinen zum Fang aus und liefern den Fisch dort
ab.«
Grímur und Högni
konzentrierten sich eine Weile auf das Essen, bis Ingibjörg
wieder hereinkam und Kjartan einen Teller Suppe
vorsetzte.
»Hier ist noch ein Rest
Fleischsuppe von gestern. Ich hoffe, dass dir das besser
schmeckt.«
Kjartan probierte, und diese Suppe
sagte ihm wesentlich mehr zu als das
Seehundfleisch.
Grímur ergriff wieder das
Wort: »Zurzeit wohnen etwa sechzig Menschen auf Flatey. Aber
viele wandern ab. Hier leben vor allem ältere Leute. Wie viele
Kinder waren in diesem Winter in der Schule,
Högni?«
Kjartan hatte das Gefühl, dass
der Gemeindevorsteher ganz genau wusste, wie viele Kinder in der
Schule waren, wie sie alle hießen, und bestimmt wusste er
auch mehr über ihre Familien als sie selber. Die Frage diente
bloß dazu, den Lehrer etwas mehr in das Tischgespräch
einzubeziehen.
»Fünfzehn waren es
insgesamt, aber viele kommen von den umliegenden Inseln«,
antwortete Högni geflissentlich.
Grímur fuhr fort: »Die
Leute gehen weg, sobald sie die Möglichkeit dazu haben. So wie
die Dinge im Augenblick liegen, gibt’s für junge Leute
hier wenig zu tun. Es wird so wenig gefangen, dass das Gefrierhaus
eigentlich nie so richtig in Gang gekommen ist. In den letzten
achtzehn Jahren sind siebzehn Inseln hier im Fjord verlassen
worden, bewohnt sind jetzt nur noch acht.«
»Und woher kommt das?«,
fragte Kjartan.
»Der Grund ist ganz einfach
der, dass die Landwirtschaft auf den Inseln so viele
Arbeitskräfte braucht, wenn man alle Ressourcen
einigermaßen nutzen will. Aber die jungen Leute finden sich
nicht mehr damit ab, in abhängiger Stellung bei
Großbauern zu sein und nur für Essen und Unterkunft zu
arbeiten. Sie wollen ihren Lohn in Geld ausbezahlt bekommen und
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