Das Raetsel von Flatey
ein
eigenes Heim gründen. Aber die lieben Landsleute werden es
irgendwann einmal schon wieder schätzen lernen, was die Inseln
zu bieten haben. Mit neuen Landmaschinen und tauglichen Booten
ließe sich hier auf vielen der westlichen Inseln
blühende Wirtschaft betreiben, und das werden künftige
Generationen bestimmt unter Beweis stellen. Hier in Flatey wird ein
mustergültiges Internat für die Kinder entstehen. Neue,
stabile Wohnhäuser werden auf der Insel errichtet, und
Familien, die fest zusammenhalten, nutzen die Ressourcen.
Landwirtschaftsbetriebe, die bis zu siebzig Seehundfelle pro Jahr
liefern, zählen seit jeher zu den reichen Höfen in
Island. Es wird sich schon noch zeigen, dass Eiderenten, Seehunde
und andere einheimische Tiere, die man nutzen kann, an die
Nähe des Menschen zu gewöhnen sind, wenn man es darauf
anlegt. Die Bauern werden Schweinezucht betreiben, Gartenbau und
Pelztierzucht, und jede Familie besitzt dann ein stabiles, gutes
Boot. Ein Helikopter steht in Flatey einsatzbereit, falls im Winter
die Schifffahrt durch Eis behindert wird. Eine Pension für
Gäste wird es geben, und die Handelsgenossenschaft floriert.
Die Erzeugnisse werden ins Ausland exportiert, für Wollsachen
kann man in kalten Ländern hohe Preise bekommen, und Fleisch
wird in Länder verkauft, wo Hunger herrscht. Fisch ebenfalls.
Hier wird in einigen Jahren die Zukunft für junge Bauern
liegen. Die Nation kann es sich nicht leisten, solche ertragreichen
Ländereien brachliegen zu lassen, mein
Lieber.«
Grímur blickte auf seinen
Teller und schnitt eine Grimasse. »Das Schlimmste an
Seehundfleisch ist, dass das Griebenschmalz kalt wird, wenn man
sich vergisst und zu viel redet«, sagte er und stand auf.
»Dann muss man den Teller auf den Herd stellen und es wieder
aufwärmen.« Er ging mit dem Teller in der Hand
hinaus.
Högni war satt und wandte sich
nun interessiert Kjartan zu.
»Woher stammt deine
Familie?«
»Nur aus
Reykjavík«, antwortete Kjartan
zurückhaltend.
»Väterlicher- und
mütterlicherseits?«
»Ja, die ganze Familie ist aus
Reykjavík.«
»Wie alt bist
du?«
»Zweiunddreißig.«
»Du hast also erst spät
mit dem Jurastudium angefangen?«
»Ja.«
»Und warum hast du das so lange
hinausgezögert? Hattest du kein Geld?«
»So kann man es
ausdrücken.«
»Du hast dir also das Geld
fürs Studium zusammengespart, bevor du damit angefangen
hast?«
»So kann man es
ausdrücken.«
»Und wo hast du
gearbeitet?«
Kjartan zögerte mit der Antwort,
aber jetzt kam Grímur mit seinem Teller zurück, auf dem
das Fett wieder brutzelte.
»Köstlich«, sagte er
und schmatzte genüsslich. »Die Suppe ist dir hoffentlich
gut bekommen?«, fragte er Kjartan.
»Ja,
danke.«
»Schön. Für die Dauer
deines Aufenthalts kannst du in dem Zimmer hier oben unter dem Dach
Quartier nehmen, bis alles über die Bühne ist. Meine Imba
wird dafür sorgen, dass du nicht vom Fleisch
fällst.«
*
... Diese zusammengewürfelten
Erzählungen und Geschichten waren im 14. Jahrhundert sozusagen
typisch für die Schreibkultur in Island. Es ging darum, in
einem Buch verwandtes Material aus unterschiedlichen Quellen
zusammenzutragen, das Ganze thematisch zu ordnen und verschiedene
Sagas über Könige miteinander zu verknüpfen, sodass
daraus eine umfangreiche und chronologisch einigermaßen
korrekte Erzählung wurde, aber der Stil konnte sehr
unterschiedlich sein. Es ging wohl eher darum, so viel
Geschichtsmaterial wie möglich zu sammeln, als ein
organisiertes Ganzes zu schaffen. Deswegen kann man sagen, dass
Flateyjarbók in gewissem Sinne ein Missgebilde ist, wenn man
das Buch mit der Heimskringla von Snorri Sturluson vergleicht, die
sich ja auch mit ähnlichen Themen befasst. Aber wegen dieser
Sammelleidenschaft ist in Flateyjarbók vieles
überliefert, was nirgendwo anders auf Pergament zu finden ist,
unzählige kleinere Geschichten und Anekdoten. Nach der Saga
von Olaf Tryggvason kommen die Sagas von Olaf dem Heiligen, von
König Sverrir Sigurdsson, Hakon dem Alten und noch weitere
Sagas. Und am Ende der Handschrift steht ein historischer Abriss
von der Schöpfung der Welt bis zu dem Tag, an dem das Buch zu
Pergament gebracht wurde ...
Vier
Im Haus des Gemeindevorstehers von Flatey war die
Mahlzeit beendet, und Frau Ingibjörg stellte eine Thermoskanne
mit Kaffee auf den Tisch. Grímur und Högni schenkten
sich den dampfenden Kaffee in die leeren Wassergläser und
nahmen sich anschließend eine Prise Schnupftabak.
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