Das Raetsel von Flatey
einiges von der Fracht wurde
auf den Inseln angetrieben. Die Leute fanden, dass die
ausländische Butter zwar scheußlich schmecke, aber sehr
ergiebig sei.«
Grímur lachte über diese
Geschichte, obwohl er sie bestimmt schon oft gehört hatte.
Vielleicht war er sogar einer von denen gewesen, die sich
Schmierfett zu Munde geführt hatten.
Unterdessen verging die Zeit rasch.
Bald hatten sie das Ziel vor Augen und näherten sich Flatey.
Kjartan war überrascht, wie viele Häuser es dort gab.
Zuerst tauchte die Kirche auf, die auf der höchsten Stelle der
Insel thronte und in Luftspiegelungen flimmerte, weiß
angestrichen, mit rotem Dach. Nach und nach kam der Ort ins
Blickfeld. Vielfarbige Hausgiebel wurden von der Sonne angestrahlt,
und allenthalben flatterte Wäsche auf der
Leine.
Grímur verlangsamte die Fahrt,
als sie an einer kleinen, hufeisenförmigen Insel mit hohen
Vogelklippen an der Nordseite vorbeikamen, die über und
über von Dreizehenmöwen zugeschissen waren. Die
geschützte Bucht an der Südseite lag dem Dorf auf Flatey
genau gegenüber. Der Sund zwischen den Inseln war
höchstens hundert Meter breit.
»Dies hier war früher der
Hafen, und die Insel heißt deswegen Hafnarey«,
verkündete Grímur. »Sie soll sogar ein uralter
Kraterrand sein, wie die Wissenschaftler sagen.« Er musste
die Stimme heben, denn jetzt kam zu dem Motorengeräusch noch
das Vogelgeschrei hinzu.
Sie glitten langsam in den Sund
hinein und näherten sich einer kleinen und altersschwachen,
betonierten Mole, die direkt bei den Häusern ins Meer
hinausragte. Ein paar Kinder hatten sich dort versammelt, die alles
mit unbefangener Neugier verfolgten.
»Das hier ist die alte
Anlegestelle. Der neue Kai ist beim Gefrierhaus im Süden der
Insel«, sagte Grímur. Er steuerte das Boot auf eine
Schwimmboje zu, die er mit einem kurzen Bootshaken heranzog.
Högni befestigte die Boje am Heck und begab sich dann nach
vorn, um bereitzustehen, wenn das Boot an den Kai kam. Kjartan
setzte sich auf die Ruderbank neben die Kiste. Er hätte sich
gern nützlich gemacht, aber die beiden schienen bestens ohne
ihn klarzukommen, und er würde wahrscheinlich nur im Weg sein.
Högni sprang zielsicher auf die betonierten Stufen, die auf
die Mole hinaufführten, und hielt das Boot fest, während
Grímur und Kjartan ausstiegen. Dann ließ er die Leine
los, und das Boot wurde von der Kaimauer
weggezogen.
Högni schimpfte mit den Kindern,
während er das Boot vertäute. »Wehe, wenn ihr in
das Boot klettert.« Um seinen Worten mehr Gewicht zu
verleihen, fügte er hinzu: »Der Gemeindevorsteher steckt
euch in die Kiste hier, wenn ihr unartig
seid.«
Die Kinder wichen bei dieser Drohung
etwas zurück und tuschelten miteinander. Ein kleiner, aber
kräftiger älterer Mann in einem dunklen Sonntagsanzug,
mit schwarzem Hut und einem silberbeschlagenen Stock in der Hand,
schob die Kinderschar beiseite und begrüßte
Kjartan.
»Kormákur Kolk,
Daunenverarbeiter und Küster«, stellte er sich mit
lauter Stimme vor, während er auf den Zehenspitzen auf und ab
wippte.
»Ich heiße Kjartan und
komme im Auftrag des Bezirksamtmanns«, sagte der
Ankömmling etwas zögernd.
Kormákur Kolk verneigte sich
tief: »Willkommen in der Gemeinde von Flatey, mein verehrter
Stellvertreter der Obrigkeit. Der Anlass ist zwar nicht erfreulich,
aber trotzdem sind uns hier auf der Insel Besuche seitens der
Obrigkeit immer eine Ehre.«
»Vielen Dank«, erwiderte
Kjartan. Seine Blicke blieben an der abgewetzten Medaille am Revers
des Küsters hängen, die an einem fadenscheinigen blauen
Band hing.
Kormákur Kolk fuhr fort mit
seiner Ansprache, senkte jetzt aber die Stimme: »Die Kirche
wird selbstverständlich offen sein, wenn ihr mit dem
Verblichenen zurückkommt. Ich werde euch mit meinem Handwagen
am Kai erwarten, wenn ihr anlegt. Unser Pfarrer wird ebenfalls da
sein und ein paar angemessene Worte sagen.«
»Ja ... danke«, sagte
Kjartan. An diesen Teil des Unternehmens hatte er überhaupt
noch nicht gedacht. Der Bezirksamtmann hatte ihm nur aufgetragen,
die Leiche von der Insel zu holen und mit dem Postboot, das in zwei
Tagen erwartet wurde, nach Reykjavík zu befördern.
Damit war sein Auftrag beendet.
»Ist es nicht möglich, die
Kiste mit einem Auto zu transportieren?«, fragte er den
Gemeindevorsteher.
»Da gibt’s nur den
Lastwagen vom Gefrierhaus, aber den haben sie in diesem
Frühjahr noch nicht wieder in Gang gekriegt. Die Karre von
Kolk tut schon ihre
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