Das Rätsel
Steuerkonsole niedersackte und nach der Zündung griff, schäumte neben ihr eine gewaltige grauschwarze Wassermasse empor, so dass ihr Gesicht und Hände nass gespritzt wurden und sie unwillkürlich einen erstaunten Schrei ausstieß. Sie hörte einen gewaltigen dumpfen Schlag, als eine Finne seitlich auf den Bootsrumpf traf, dann sah sie nur wenige Zentimeter von ihrer Hand entfernt eine weiß schäumende Explosion.
Der Ausbruch war so heftig, dass sie von ihrem Sitz auf das Deck ihres Skiffs geworfen wurde.
»Du liebes bisschen!«, schrie sie.
Neben dem Boot quirlte es, dann wurde es ruhig.
Ihr Herz hämmerte.
»Was zum Teufel bist du?«, rief sie und rappelte sich auf die Knie hoch.
Die Frage ging im nächtlichen Schweigen unter.
Sie starrte über das Wasser, konnte aber nirgends Anzeichen für den Fisch erkennen, der neben ihrem Skiff aufgetaucht war. Wieder mahnte sie sich zur Ruhe. Gott, was war da mit mir im Wasser? Ein Bullenhai? Durchaus möglich. Vielleicht ein Tiger- oder ein Hammerhai? Himmel, der muss genau da, genau am Rand der Untiefe gewesen sein und nach seinem Abendbrot Ausschau gehalten haben, und ich bin direkt neben ihm im Wasser rumgeplanscht. Himmel! Sie sah plötzlich lebhaft vor sich, wie der Fisch die ganze Zeit unter ihr gewesen war, zu ihr hinaufgestarrt, gewartet und sich immer näher angepirscht hatte, auch wenn er nicht recht wusste, was sie war.
Susan schauderte bei dem Gedanken und sie versuchte, die Angst, die ihr immer noch im Nacken saß, zu verscheuchen.Sie begriff, dass sie nichts weiter tun konnte; also ließ sie mit einer etwas zittrigen Hand langsam den Motor ins Wasser, betätigte den Anlasser und legte den Vorwärtsgang ein. Nur wenig schneller als im Leerlauf steuerte sie in die Richtung, in der sie die Küste vermutete.
Wir kommen heute Abend irgendwie nach Hause, sagte sie sich, und dann lassen wir das mit dem Angeln eine Weile. Während sie so langsam vorwärtstuckerte, wie ein Baby über einen unbekannten Boden krabbelt, musste sie daran denken, dass ihre Mutter nicht mehr allzu lange bei ihr sein würde und dass sie möglichst bald für diesen Zeitpunkt gewappnet sein sollte. Allerdings wusste sie nicht, wie sie sich darauf vorbereiten sollte.
Diana Clayton war in ihre Zeichnung vertieft, während es allmählich dunkel wurde. Schließlich konnte sie die letzten Linien und Schattierungen ihres Bildes kaum noch erkennen. Sie schaute auf, griff nach dem Lichtschalter und stellte fest, dass ihre Tochter sich verspätete.
Sie wollte ans Fenster treten und nach ihr Ausschau halten, doch in den letzten Tagen hatte sie sich zu oft dabei ertappt, wie sie hinaussah, als traute sie ihrer gewohnten Umgebung nicht mehr. Diesmal würde sie nicht wie die gebrechliche, alte Frau reagieren, die sie vermutlich war, sondern einfach darauf vertrauen, dass ihre Tochter sicher nach Hause kam. Und so lief sie – statt wie gewohnt aus dem Fenster zu blicken – quer durchs Haus und schaltete sämtliche Lichter an, entschieden mehr, als sie normalerweise benutzten. Am Ende gab es keine einzige Birne, die nicht brannte. Selbst die Lampen in den Schränken ließ sie nicht aus.
Als sie zu ihrem Sessel zurückging, betrachtete sie ihre Kohlezeichnung und fragte laut vernehmlich:
»Was wolltest du von mir?«
Sie hatte das Gesicht auf dem Malblock mit einem verschlossenen Lächeln gezeichnet und mit einem Blick in den Augen, der nahelegte, dass er etwas wusste, was niemand ahnte – ein selbstgefällig amüsierter Blick, den sie nur als böse bezeichnen konnte.
»Wieso hast du ausgerechnet mich gewählt?«
Auf dem Bild war er ein junger Mann, und sie sah sich selbst, von der Krankheit gezeichnet, als eine alte Frau. Sie fragte sich, ob er von seiner Krankheit ebenso frühzeitig gealtert war, doch da hatte sie ihre Zweifel. Seine Krankheit würde eher wie ein Ponce-de-Léon-Elixier auf ihn wirken, dachte sie wütend. Vielleicht hat er mit den Jahren ein bisschen mehr Fleisch auf die Rippen bekommen, und die Haare sind zurückgegangen. Vielleicht hat er ein paar tiefere Falten auf der Stirn und um die Mundwinkel und Augen. Aber das wär’s dann wohl. Er ist zweifellos immer noch stark. Und ungebrochen selbstbewusst.
Auf der Zeichnung hatte sie seine Hände ausgespart. Bei der Erinnerung an seine Hände fröstelte sie. Er hatte lange, feine Finger gehabt, in denen sich große physische Kraft verbarg. Er spielte ziemlich gut Violine und konnte dem Instrument die ausdrucksvollsten
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