Das Rätsel
Töne entlocken.
Er spielte immer allein. Im Keller, in einem Raum, den er sich dort eingerichtet hatte und zu dem weder sie noch die Kinder Zutritt hatten. Der Klang des Instruments stieg wie Rauch durchs Haus, weniger ein Ton als ein Gefühl der Kälte.
Sie schloss die Augen und biss die Zähne zusammen, wenn sie daran dachte, dass die Hände, die sie nicht zeichnen konnte, ihren Körper berührt hatten. Tief und intim. Sein sexuelles Interesse an ihr war auffällig selten gewesen, dann jedoch beharrlich. Sex war in ihrer Ehe nicht die Vereinigung zweierMenschen gewesen, sondern er hatte sie einfach benutzt, wenn ihm danach war.
Diana merkte, wie sich ihr die Kehle zuschnürte.
Aus Protest gegen das, was ihre Intuition beharrlich wiederholte, schüttelte sie energisch den Kopf.
»Du bist tot«, sagte sie laut zu der Zeichnung. »Du bist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und ich hoffe, es hat wehgetan.«
Sie nahm den Zeichenblock in beide Hände, bohrte den Blick in das Gesicht und klappte den Block zu. Sie fand die Form seines Mundes haargenau bei ihrer Tochter wieder; seine Stirn war die ihres Sohns; das Kinn war bei allen dreien gleich. Die Augen – und das, was sie gesehen hatten – teilte er, wie sie hoffte, mit keinem. Ich war jung, und ich war einsam, erinnerte sie sich, ich war still und ein Bücherwurm, ich hatte keine Freunde. Ich hatte nie Freunde. Ich war nie beliebt, und ich war nie hübsch, also gab es keine Jungs, die mich wegen eines Dates anriefen. Ich trug Brille und das Haar streng zurückgekämmt, und ich hab nie Make-up benutzt. Ich war auch nie witzig oder amüsant oder athletisch oder sonst irgendetwas, das jemand hätte anziehend finden können. Ich war disharmonisch und konnte mich außer über mein Studium mit niemandem über nichts unterhalten. Bis er auf der Bildfläche erschien, dachte ich, mehr hätte das Leben nicht zu bieten, und mehr als einmal überlegte ich, es zu beenden, bevor es richtig angefangen hatte. Depressiv und suizidgefährdet. Wieso eigentlich?, fragte sie sich plötzlich. Weil meine eigene Mutter ebenfalls mausgrau, ruhig und labil war, süchtig nach Appetitzüglern; und mein Vater war ein eingefleischter Akademiker, ein wenig unterkühlt, ein wenig distanziert, der sie liebte, aber trotzdem betrog, und sich jedes Mal, wenn er es tat, ein bisschen mehr dafür schämte und sichnoch weiter von uns allen entfernte. Ich lebte in einem Haushalt voller Geheimnisse und mit geringer Neigung, die Wahrheit herauszufinden. Nachdem ich dann erwachsen war, wollte ich unbedingt weg, nur um festzustellen, dass da draußen nicht allzu viel auf mich wartete.
Sie betrachtete den Skizzenblock, der zu Boden gefallen war.
Außer dir
.
Sie griff abrupt danach, blätterte zum Bild und schrie es im selben Atemzug an: »Ich habe sie gerettet! Ich habe sie und mich vor dir gerettet!«
Diana Clayton erhob sich ein wenig und schleuderte den Block durchs Zimmer, so dass er gegen die Wand klatschte und flatternd über den Boden rutschte. Sie sank erneut in den Sessel, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ich sterbe, dachte sie. Ich sterbe, und jetzt, da ich Frieden verdiene, wird er mir genommen.
Sie öffnete die Augen und sah die Zeichnung, die ihr entgegenstarrte. Von dir.
Sie stand auf und ging langsam quer durchs Zimmer, um den Block aufzuheben. Sie wischte den Staub ab, klappte ihn zu, dann sammelte sie die Kohlestifte sowie den Lappen ein, mit dem sie das Papier abgedeckt hatte, nahm alles mit zu ihrem Schrank, wo sie es – für ihre Tochter hoffentlich unauffindbar – in eine Ecke warf.
Sie trat zurück und schlug die Schranktür zu. Ich werde nicht darüber nachdenken, hämmerte sie sich ein. Es ging damals, in jener Nacht, zu Ende. Es tut nicht gut, sich diese Dinge in Erinnerung zu rufen.
Ohne sich eine einzige dieser Lügen abzukaufen, kehrte Diana ins Wohnzimmer ihrer Zuflucht zurück, um dort auf ihre Tochter mit dem versprochenen Abendessen zu warten. Sie saß in der Stille, im grellen Licht, bis sie die vertrauten Schritteihrer Tochter draußen im Dunkeln den Pfad heraufkommen hörte.
Die frischen Fischfilets, in wenig Butter, Weißwein und Zitrone gedünstet, waren köstlich und belebten ihre müden Geister. Mutter und Tochter gönnten sich jede ein Glas Wein zum Essen und tauschten den einen oder anderen schlüpfrigen Witz aus, was das Haus nach langer Zeit endlich einmal wieder mit Lachen erfüllte. Diana redete nicht von der Zeichnung, die
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