Das Rätsel
Schreibtisch und zögerte einen Moment, bevor er fragte: »Und wieso?«
»Erhoffen Sie sich von der Information irgendeinen Nutzen? Wollen Sie damit eine Lücke in Ihrem Leben füllen?«
Das traf zwar, was er hoffte, nicht den Nagel auf den Kopf, war aber auch nicht ganz falsch. Jeffrey überlegte, dass es eigentlich klüger gewesen wäre, wenn er sich vorher klargemacht hätte, was genau er wissen wollte. Doch statt damit herauszuplatzen, wiederholte er: »Erinnern Sie sich an ihn?«
»Selbstverständlich. Er hat auf mich einen unvergesslichen Eindruck gemacht.«
»Und welchen?«
»Er war ein gefährlicher Mann.«
Bei dieser Antwort verstummte Jeffrey einen Moment, bevor er nachhakte: »Inwiefern?«
»Er war ein höchst ungewöhnlicher Historiker.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Die meisten von uns sind von den Wechselfällen der Geschichte fasziniert. Wieso dies oder jenes passiert ist. Es ist ein Spiel, wissen Sie, als ob man eine Landkarte durch Papier abpausen wollte, das nicht dünn genug ist.«
»Und er war anders?«
»Ja, zumindest war das mein Eindruck …«
»Und?«
Der ältere Mann überlegte, dann zuckte er die Achseln. »Er liebte die Geschichte, weil – das ist nur meine persönliche Ansicht, das dürfen Sie nicht vergessen –, weil er sie benutzen wollte. Für seine eigenen Zwecke.«
»Ich verstehe nicht ganz.«
»Die Geschichte ist oft eine Zusammenstellung der Fehler, die Menschen begangen haben. Ich hatte das Gefühl, als lechzte Ihr Vater danach, immer mehr darüber zu erfahren, weil er selbst diese Fehler vermeiden wollte.«
»Verstehe …«, fing Jeffrey an.
»Nein, das glaube ich nicht. Ihr Vater hat europäische Geschichte unterrichtet, aber das war nicht sein eigentliches Gebiet.«
»Sondern?«
Der kleine Mann lächelte wieder. »Nur eine Meinung. Ein Gefühl. Wofür ich keine Beweise habe.« Er schwieg und seufzte. »Ich werde alt. Nur noch ein Seminar. Postgraduierte. Die mögen meinen Stil nicht mehr. Sind brüsk. Angriffslustig. Provokativ. Ziehen Theorien in Zweifel. Rütteln an Konventionen. Das ist das Problem, wenn man Historiker ist, wissen Sie? Man hat für die moderne Welt nicht viel übrig. Man sehnt sich nach den alten Zeiten.«
»Sie sagten gerade, ›sein eigentliches Gebiet‹.«
»Was wissen Sie über Ihren Vater, Mr. Clayton?«
»Was ich weiß, gefällt mir nicht.«
»Das haben Sie schön gesagt. Was ich jetzt sage, mag hart klingen, Mr. Clayton, aber ich war hoch erfreut, als Ihr Vater mir erklärte, er wolle gehen. Und nicht, weil er kein guter Lehrer gewesen wäre, denn das war er. Wahrscheinlich einerder besten, die ich je kennengelernt habe. Und beliebt. Aber wir hatten schon eine Studentin verloren. Eine arme junge Frau, die vom Campus entführt und äußerst brutal ermordet worden war. Ich wollte nicht, dass das noch einer zustößt.«
»Sie meinen, er hatte damit zu tun?«
»Was wissen Sie, Mr. Clayton?«
»Ich weiß, dass die Polizei ihn vernommen hat.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Die Polizei!«, schnaubte er. »Die hatten keine Ahnung, wonach sie suchen sollten. Ein Historiker weiß es besser. Er weiß, dass alle Ereignisse ein Zusammenspiel vieler Faktoren sind, dass Kopf und Herz, Politik, wirtschaftliche Aspekte und auch der Zufall, alle unwägbaren Kräfte dieser Welt eine Rolle spielen. Ist Ihnen das klar, Mr. Clayton?«
»Für mein Fachgebiet trifft das sicher zu.«
»Und was ist Ihr Fachgebiet, wenn ich fragen darf?«, wollte der alte Mann wissen, während er sich die gebrochene Nase rieb.
»Ich bin Professor für kriminelle Verhaltensstörungen, an der Universität von Massachusetts.«
»Ach, wie interessant. Demnach sind Sie Spezialist …«
»Ich habe mich spezialisiert auf Tötungsdelikte.«
Der alte Professor lächelte. »Genau wie Ihr Vater.«
Jeffrey lehnte sich in einer stummen fragenden Geste vor. Der Historiker wippte auf seinem Stuhl.
»Eigentlich hat es mich gewundert«, fuhr der Ältere fort, »dass im Lauf der Jahre niemand gekommen ist, um nach Jeffrey Mitchell zu fragen. Und nach so langer Zeit habe ich dann beinahe selbst an diesen berühmten Autounfall geglaubt und daran, dass die Welt von einer kleinen, aber tödlichen Kugel verschont geblieben war. Das ist ein Klischee. Ich sollte mir eigentlich keine Klischees erlauben, selbst jetzt, da ich altbin und mich nicht mehr so nützlich wie früher machen kann. Ein Historiker sollte grundsätzlich zweifeln. Der einfachen Antwort misstrauen. Der
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