Das Rätsel
Vorstellung, dass der Zufall der Welt je etwas Gutes beschert hätte. Denn das kommt nur selten vor. Man sollte alles in Frage stellen. Denn in der Geschichte stößt man nur zu einer Wahrheit vor, wenn man gesunde Zweifel mit einer Prise Skepsis würzt …«
»Mein Vater …«
»Wenn Sie mehr über den Tod erfahren wollten, über das Töten, über Folter, über all die Gelegenheiten, bei denen die dunklere Seite der menschlichen Natur ausbricht, dann war er Ihr Mann. Er war ein wandelndes Lexikon des Bösen: das Autodafé, die Inquisition, Vlad der Pfähler, die Christen in den Katakomben, Tamerlan der Eroberer, die Ketzerverbrennungen im Hundertjährigen Krieg. Darin war er überaus beschlagen. Welchen Teil der Frauenleber hat Jack the Ripper mit seiner berühmten Herausforderung an die Polizei geschickt? Ihr Vater wusste so etwas. Billy the Kids Lieblingswaffe? Ein Colt Kaliber vierundvierzig – nicht so viel anders als der Charter Arms Bulldog Kaliber vierundvierzig, den Berkowitz, der Son of Sam, benutzte. Die genaue Formel für Zyklon B? Das konnte Ihnen Ihr Vater ebenfalls sagen, und auch die Temperatur der Öfen in Auschwitz. Wie viele Männer an der Somme in den ersten Minuten nach dem Zeichen zum Angriff draufgingen? Er wusste es. Ethnische Säuberungen und serbische Todeslager? Tutsis und Hutus in Ruanda? Er konnte sämtliche Details zu diesen Abscheulichkeiten aus dem Ärmel schütteln. Er wusste, wie viele Peitschenschläge einen Mann töteten, der in den zaristischen Gulags des vorrevolutionären Russland bestraft werden sollte, und er wusste, welchen Bruchteil einer Sekunde das Fallbeil der Guillotine brauchte, und er hätte mit einem kleinen Lächelnhinzugefügt, dass Monsieur Guillotin, der Erfinder der Vorrichtung, den französischen Behörden überzeugend und arglistig einredete, dass die bemitleidenswerten Opfer der Höllenmaschine ›nicht mehr als ein leichtes Kitzeln im Nacken‹ spüren würden. Das alles und mehr konnten Sie von ihm erfahren.«
Der alte Mann hüstelte. »Wenn Sie etwas über Ihren Vater wissen wollen, dann müssen Sie so viel wie möglich über den Tod in Erfahrung bringen.«
Jeffrey wedelte ein wenig mit der Hand, als wolle er den Geruch einer Erinnerung abwehren. »Er hat Ihnen Angst gemacht?«
»Natürlich. Einmal hat er mir gegenüber behauptet, wenn die Geschichte eines deutlich mache, dann die Leichtigkeit, mit der man töten könne.«
»Haben Sie das der Polizei erzählt?«
Der Geschichtslehrer schüttelte den Kopf. »Ihnen was erzählt? Dass ihr Tatverdächtiger sich offenbar bestens mit Leben und Sterben so ziemlich jedes größeren oder kleineren Mörders auskannte, den die moderne Welt zu bieten hatte? Was hätte das bewiesen?«
»Vielleicht wäre es eine nützliche Erkenntnis gewesen.«
»Das Mädchen wurde ermordet. Eine Reihe von Leuten, darunter auch Ihr Vater, wurden vernommen. Aber er war nicht der Einzige. Ein paar andere Lehrer, ein Hausmeister, ein Angestellter vom Küchenpersonal und der Trainer der Jugendmannschaft der Lacrosse-Spielerinnen wurden ebenfalls verhört. Genau wie die anderen ließen sie ihn ohne Anklage laufen, da sie keine Beweise gegen ihn hatten. Nur Verdachtsmomente. Kurz darauf kündigte er seine Stelle. Und dann wieder ein paar Wochen später die überraschende Nachricht von seinem Tod. Angeblichen Tod, wie Sie sagen. Dennocheine Nachricht. Ein kleiner Schock. Ein unerwartetes Ereignis. Vielleicht von einigem Interesse, weil der Zeitpunkt so ungewöhnlich war. Aber es wurden kaum Fragen gestellt und noch weniger Antworten gefunden. Das Leben ging weiter. In Institutionen wie diesen hier ist das normal. Egal, was in der Welt passiert, das Leben an einer Lehranstalt wie dieser geht einfach weiter wie zuvor und in alle Zukunft.«
Jeffrey sah zwischen dem College und dem Staat, für den er arbeitete, einige Gemeinsamkeiten. Beide glaubten, sie könnten – jeweils auf ihre Art – den Rest der Welt draußen halten. Beide hatten dieselben Probleme damit, die Illusion aufrechtzuerhalten.
»Erinnern Sie sich zufällig, was er gesagt hat? Als er kündigte?«
Der alte Mr. Maynard nickte und beugte sich vor. »Ich habe ihn zweimal getroffen, und an beide Gelegenheiten kann ich mich nach all den Jahren ganz genau erinnern. Das gehört sich für einen Historiker auch so, Mr. Clayton. Sie müssen sich wie ein Journalist den Blick fürs Detail bewahren.«
»Und?«
»Wir sind uns zweimal begegnet. Das erste Mal kurz nach dem Verhör
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