Das Rätsel
Vater.«
Der Anwalt zog eine dünne graue Augenbraue hoch. »Tatsächlich? Trotzdem ist es wohl kein Verbrechen, jung zu sterben, auch wenn das die meisten Kinder denken mögen.«
»Das stimmt. Aber was er tatsächlich getan hat, fällt unter diese Kategorie.«
»Nämlich?«
»Mord.«
Wieder schwieg der Anwalt eine Weile. »Ein Toter, der in einen Mord verwickelt ist. Wie faszinierend.«
Der Anwalt schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen mit Informationen dienen kann, Mr. Clayton. Jeder mündliche oder schriftliche Wortwechsel zwischen Ihrem verstorbenen Vater und mir unterliegt der Schweigepflicht. Möglicherweise erlischt die mit seinem Tod. Darüber lässt sich füglich streiten. Falls er, wie Sie behaupten, nun plötzlich doch am Leben ist, dann hat sie natürlich volle Gültigkeit, selbst nach all den Jahren. Sehr alte Geschichte, das Ganze. Ich möchte sehr bezweifeln, dass ich überhaupt noch die Akte besitze. Meine Kanzlei ist heute vollkommen anders und bedeutend größer als zu der Zeit, da dieser Brief an Ihre Mutter herausging. Deshalb denke ich, Sie unterliegen einem Irrtum, jedenfalls kann ich Ihnen nicht helfen. Guten Tag, Mr. Clayton, und viel Glück. Joyce, führen Sie den Herrn bitte hinaus.«
Dies schien die adrette Sekretärin mit dem größten Vergnügen zu tun.
Das Gelände der St Thomas More Academy war von einem drei bis vier Meter hohen schmiedeeisernen Zaun eingefasst – ein reines Zierelement, hätte es nicht Warnhinweise gegeben, dass der Zaun unter Strom stand. Jeffrey vermutete, dass er noch einmal ein bis zwei Meter tief in die Erde reichte. Am Eingangstor kam ihm ein Sicherheitsmann entgegen und geleitete ihn zur Akademie. Sie liefen zwischen massiven Bauten aus rotem Klinker eine Allee entlang. Im Frühling, dachte Jeffrey, bedeckte wahrscheinlich dichtes Grün die Wände der Studentenwohnheime und Übungsräume, während jetzt, daes auf den Winter zuging, die braunen Stengel des Weins wie unzählige Fangarme die Steine hochkletterten. Von den Eingangsstufen des Verwaltungsgebäudes aus konnte man die weite Fläche der stumpfgrünen Sportplätze sehen, auf denen vom reichlichen Gebrauch an vielen Stellen die nackte Erde durchkam. Der Mann vom Geleitschutz trug einen blauen Blazer und eine rote Schulkrawatte, und unter seiner Jacke erkannte Jeffrey die Umrisse einer Automatik. Er war mürrisch und wortkarg, und als die Kirchenglocke das Ende einer Stunde einläutete, schob er Jeffrey durch eine breite Flügeltür aus Glas. Dahinter spien die Übungsräume Studenten aus, die mit einem Schlag die verlassenen Gänge verstopften.
Die Assistentin des Direktors war eine ältere Frau mit einer Hornbrille auf der Nasenspitze und einem Helm aus toupiertem, blauem Haar. Sie versprühte Freundlichkeit und Effizienz, und Jeffrey kam unwillkürlich der Gedanke, dass in einer Welt der Zerstörung die alten Lehranstalten sich am langsamsten veränderten. Er konnte nicht sagen, ob das gut oder schlecht war.
»Professor Jeffrey Mitchell, du liebe Güte, ich glaube, den Namen habe ich seit Jahren nicht mehr gehört. Was sag ich, seit Jahrzehnten. Und Sie sagen, er war Ihr Vater? Du liebe Zeit, ich kann mich nicht einmal entsinnen, dass er verheiratet war.«
»Das war er. Ich bin auf der Suche nach jemandem, der sich an seinen Tod erinnern kann. Leider habe ich ihn nie gekannt. Nicht wirklich. Sehr frühe Scheidung.«
»Verstehe«, meinte die Frau. »Das ist leider allzu oft der Fall. Und jetzt wollen Sie …«
»Nur ein paar Lücken in meinem eigenen Leben schließen«, erklärte Jeffrey. »Es tut mir leid, so unangemeldet hier hereinzuplatzen.«
Die Frau sah ihn mehr oder weniger genauso an wie einen Studenten, der wegen einer Grippe eine Klausur verpasst hatte. Verständnisvoll, aber nicht unbedingt mit Anteilnahme.
»Ich selbst kann mich nur vage erinnern«, überlegte sie. »Ich sehe ihn als einen sehr vielversprechenden jungen Mann vor mir. Scharfer Intellekt. Geschichte hat er, glaube ich, unterrichtet?«
»Ja, so viel ich weiß.«
»Leider sind nur wenige von uns übrig geblieben, die sich noch an diese Zeit erinnern könnten. Und Ihr Vater war nur ein paar Jahre hier, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt. Wir waren nur wenige Wochen gemeinsam hier tätig, und ich habe ihn kaum kennengelernt, bevor er seinen Dienst quittierte. Ich war in der Verwaltung, während er zum Lehrkörper gehörte. Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit, selbst an einem
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