Das Rätsel
Abstieg in die Hölle, dachte Jeffrey.
Caril Ann drückte ihm den Pistolenlauf fest an den Schädel.
»Es gibt eine berühmte Geschichte, Jeffrey«, fuhr Curtin auf der Treppe fort. »›The Lady or the Tiger‹ – ›Die Lady oder der Tiger?‹. Was befindet sich hinter der Tür? Der sofortige Tod oder die augenblickliche Wonne? Und hast du gewusst, dass es zu der Geschichte eine Fortsetzung gibt? Mit dem Titel ›The Discourager of Hesitency‹ – frei übertragen: ›Die Frau, die einem das Zaudern austreibt‹. Diesen Part übernimmt meine wunderbare Caril Ann. Denn Unentschlossenheit kommt einen in dieser Welt teuer zu stehen. Menschen, die nicht die Gelegenheit beim Schopfe packen, haben schnell das Nachsehen.«
Sie hatten das Kellergeschoss erreicht und standen in einem modern eingerichteter Hobby- und Fitnessraum. An einer Wand befand sich ein Großbildfernseher, in einigem Abstand davor ein bequemes Ledersofa. Sein Vater blieb stehen und nahm die Fernbedienung von einem Beistelltisch. Er hielt sie in Richtung des Apparats, und auf dem Bildschirm erschien ein grauschwarzes Rauschen.
»Amateurfilme«, sagte sein Vater.
Er klickte ein zweites Mal auf die Fernbedienung, und ein verblasstes Video erschien. Sein Vater musste den Ton ausgeschaltet haben, denn die Bilder waren stumm – und umso grauenvoller. Auf der Leinwand sah Jeffrey eine nackte junge Frau, die mit den Handgelenken an Ringen hing, welche in die Wand eingelassen waren. Sie flehte denjenigen, der die Kamera hielt, an, und die Tränen strömten ihr über das angstverzerrte Gesicht. Die Kamera zoomte dicht an ihre Augen heran, aus denen das letzte Stadium der Erschöpfung, Angst und Verzweiflung sprach. Jeffrey verschlug es den Atem, als er das lebendige Gesicht des letzten Opfers wiedererkannte, das er nur nach ihrem Tod gesehen hatte. Sein Vater drückte auf einen anderen Knopf, und der Bildschirm erstarrte zum Standbild.
»Es erscheint immer noch weit weg, nicht wahr?«, fragte sein Vater, in dessen Stimme sich freudige Erregung schlich. »Weit weg und unmöglich. Nicht real, obwohl wir beide wissen, dass es einmal sehr real und sehr intensiv gewesen ist. Hyperreal geradezu.«
Sein Vater drückte wieder auf die Fernbedienung, und das Bild verschwand.
Caril Ann drückte Jeffrey den Pistolenlauf schmerzhaft gegen den Kopf und schob ihn quer durch den Hobbyraum in Richtung einer Tür, die, wie Jeffrey wusste, zum Musikzimmer führte.
Curtin lächelte. »Von jetzt an liegen sämtliche Entscheidungen bei dir. Du hast die Wahl, du verfügst über sämtliche Informationen. Du hast alles über Mord gelernt, was es zu lernen gibt, bis auf eins: Wie es ist, jemandem eigenhändig das Leben zu nehmen.«
Curtin trat neben die Tür und drückte auf einen Lichtschalter.Dann drehte er den Schlüssel im Schnappschloss. Wie der Assistent eines Chirurgen nahm er Jeffreys rechte Hand und drückte ihm den Griff des Messers hinein. Jetzt, da er immerhin bewaffnet war, bohrte Caril Ann ihm den Lauf ihrer Pistole noch tiefer ins Fleisch. Curtin sah sich noch einmal grinsend zu Jeffrey um und weidete sich an den Qualen, die er ihm bereitete.
Sein Gesicht glühte von der Erregung, mit der er diesen Augenblick genoss, und Jeffrey erkannte, dass er vor Jahren von seiner Mutter gerettet worden war, doch wie ein uneinsichtiges Kind, das nicht wahr haben will, was alle ihm sagen, hatte er nie ganz begriffen, dass er befreit, dass er gerettet worden war. Durch seine eigene Widerspenstigkeit, gepaart mit Pech und Unentschlossenheit, hatte er sich genau zu dem Moment zurückkatapultiert, als er neun Jahre alt war und über die Schulter noch einmal den Mann anstarrte, der jetzt neben ihm stand. Er hätte nie zurückblicken sollen. Nicht ein einziges Mal in fünfundzwanzig Jahren. Stattdessen hatte er dieses ganze Vierteljahrhundert seines Lebens mit dem Blick über die Schulter verbracht. Jetzt hatte ihn das, was die ganze Zeit in seinem Rücken gelauert hatte, eingeholt, und es versuchte, seine Zukunft zu zerstören.
Er wollte sich wehren, wusste jedoch nicht, wie.
»Caril Ann«, versprach Curtin in scharfem Ton, »wird dir jede Zögerlichkeit austreiben.« Wieder begegneten sich die Augen von Vater und Sohn über die Kluft der Jahre und der Verzweiflung hinweg.
»Willkommen daheim, Jeffrey«, sagte er, und die Tür zum Musikzimmer schwang auf.
Die Schalldämmung war wirkungsvoll; weder Susan noch das wimmernde, in Panik aufgelöste Mädchen, das neben ihr
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