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Das Rätsel

Titel: Das Rätsel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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»Komm schon, Susan, reiß dich los. Feierabend.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nur noch ein paar Dinge zu Ende bringen«, antwortete sie.
    »Was man partout noch am Abend erledigen will, kann auch als Erstes morgen früh drankommen. In diesen Zeiten ein kluger Rat. Eine Lebensweisheit.«
    Susan grinste und machte eine wegwerfende Handbewegung.
    »Ich mach bald Schluss.«
    »Aber dann bist du die Letzte«, warnte er. »Es ist nicht gut, allein zu sein. Gib wenigstens dem Wachdienst Bescheid, damit sie wissen, dass du noch da bist. Schließ die Türen ab und schalte die Alarmanlage ein.«
    »Ich kenne die Regeln.«
    Der Redakteur zögerte. Er war ein älterer Mann mit grau meliertem Haar und Bart – ein begnadeter Profi, einer der führenden Leute des
Miami Herald
, bis ihn seine Drogensucht die Stellung kostete und ihn zu den Klatschspalten und schmeichelhaften Lügen über die Hautevolee bei der Wochenzeitschrift relegierte, für die sie beide arbeiteten. Was ihm an Leidenschaft fehlte, machte er mit stoischer Gewissenhaftigkeit wett, gepaart mit einem bissigen, sehr geschätzten Humor. Die Mischung brachte ihm einen Gehaltsscheck ein, der zu gleichen Anteilen an seine geschiedene Frau, an seine Kinder und an Kokain ging. Sie wusste, dass er derzeit angeblich clean war. Doch mehr als einmal hatte sie Spuren eines weißen Pulvers an den Haaren seines Lippenbarts gesehen, wenn er aus der Herrentoilette kam. Sie ignorierte das einfach, denn sie wusste, dass sie sich mit der kleinsten Bemerkungin sein Leben einmischen würde, was sie auf keinen Fall wollte.
    »Machst du dir keine Gedanken über die Gefahren?«
    Susan lächelte, wie um die Frage zu verneinen, auch wenn sie natürlich beide wussten, dass das gelogen war.
    »Was passiert, das passiert eben«, antwortete sie. »Manchmal denke ich, wir verschwenden so viel Zeit auf unsere Vorsichtsmaßnahmen, dass nicht mehr viel übrig bleibt für das, was wirklich zählt.«
    Der Redakteur schüttelte den Kopf und lachte leise. »Schau an, eine Frau voller Rätsel und Philosophie. Nein, ich denke, du irrst. Früher mal konnte man sich einfach dem Schicksal überlassen, und höchst wahrscheinlich passierte einem nichts. Aber das ist Jahre her. Die Zeiten haben sich geändert.«
    »Trotzdem, ich nehme es lieber, wie es kommt«, erwiderte Susan. »Ich kann auf mich selbst aufpassen.«
    Der Kollege zuckte die Achseln. »Was ist denn so dringlich?«, fragte er verdrießlich. »Was ist so wichtig, dass du hierbleiben willst, wenn alle anderen längst zu Hause sind? Was ist so toll an diesem Büro? Findest du unseren Arbeitgeber so spendabel, dass du dein Leben riskieren würdest, um den Ruhm des
Miami Magazine
zu mehren?«
    »Sicher. So gesehen hast du recht …«, gab sie zu. »Aber ich arbeite noch an einem Special zu meinem letzten Rätsel, und ich bin mitten drin.«
    Der Kollege nickte. »Einem Special? Einer Botschaft an einen neuen Verehrer?«
    »So etwas in der Art.«
    »Für wen ist das Special denn gedacht?«
    »Ich hab einen verschlüsselten Brief nach Hause bekommen«, erklärte sie, »und ich dachte mir, ich gehe auf das Spielchen ein.«
    »Klingt ja faszinierend. Aber gefährlich. Sei vorsichtig.«
    »Ich bin immer vorsichtig.«
    Der Redakteur sah an ihr vorbei aus dem Fenster, wo immer noch der Rauch aufstieg – ein Stillleben städtischer Vernachlässigung hinter Glas.
    »Manchmal hab ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen«, gestand er leise.
    »Wie bitte?«
    »Manchmal denke ich, mir bleibt die Luft weg. Oder sie ist zu heiß, um sie einzuatmen. Vielleicht auch zu verrußt. Und ich ersticke daran. Oder voller Krankheitserreger, und wenn ich husten muss, spucke ich Blut.«
    Susan antwortete nicht, auch wenn sie innerlich dachte:
Ich weiß genau, was du meinst
.
    Der Redakteur sah weiter an ihr vorbei. »Ich frage mich, wie viele Menschen heute Nacht da draußen sterben werden«, sagte er in einem versonnenen, ruhigen Ton, der nahelegte, dass er keine Antwort erwartete. Dann schüttelte er wie ein Tier, das ein lästiges Insekt loswerden will, mehrfach den Kopf. »Sieh zu, dass du nicht in die Statistik eingehst«, warnte er sie direkt und in einem autoritären Ton. »Halte dich an die offiziellen Zeiten. Geh nicht ohne Geleitschutz. Halte die Augen offen, Susan. Pass auf dich auf.«
    »Das hab ich auch vor«, erwiderte sie und fragte sich im selben Moment, ob sie es auch so meinte.
    »Wo sollten wir so schnell eine neue Rätselkönigin hernehmen?

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