Das Regenmaedchen
Es roch wie ein sommerlicher Gang durch frisch geschnittenes
Gras. Sie sehnte sich danach, die Schuhe auszuziehen und mit den Zehen im Gras
zu wühlen, in der Nässe, wie sie es als Kind getan hatte. Da waren die Morgen
kühl gewesen und groß, der Bach ein breiter Fluss, die Tage weite Himmelsbögen.
Sie war verrückt gewesen nach diesen Sommern. Herz tippte sie an. »Alles in
Ordnung?«
Sie nickte. »Was für ein Kampf?«, fragte sie. »Worum ging
es wohl? Verletzte Liebe? Verletzter Stolz? Eifersucht?«
Herz zuckte die Schultern. »Zumindest sind deshalb schon
viele ausgerastet und haben zugeschlagen. Auch bis zur letzten Konsequenz.«
Er strich sich bedächtig über sein Haar, das grau zu
werden begann und ihm gut zu Gesicht stand. »Ja«, sagte er. »Und dabei ist sie
wohl gestürzt. Und hier auf dem Stein gelandet. Hast du die Wunde an ihrem
Hinterkopf gesehen? Borger meint, das könnte passen. Und dass die Wucht des
Aufpralls zu einer kurzen Bewusstlosigkeit geführt haben wird.« Franza nickte.
»Wahrscheinlich war es Pech. Wahrscheinlich wollte unser
Mann das gar nicht. Anfangs will man das doch nie«, sagte Herz. »Aber plötzlich
lag sie da. Rührte sich nicht mehr. Gab keinen Ton von sich. Und er bekam
Panik. Hielt sie vielleicht für tot.«
Sie schwiegen. Geruch nach Sommer. Nach Gras. Nach weiten
Himmelsbögen. »Was tut ein normaler Mensch in so einer Situation?«
»Man holt Hilfe. Oder fährt dahin, wo man Hilfe bekommt.
Also runter von der Autobahn. In ein Krankenhaus.«
»Was hat er getan?«
»Er hatte wohl diese Idee. Darum hat er sie ins Auto
gepackt und ist los. Zumindest hundert Meter.«
»Oder er wollte sie einfach entsorgen. Weil er sie für tot
hielt und dadurch alles sehr kompliziert wurde. Stell dir das vor. Plötzlich
hängt eine Tote an dir.« Sie spürten das Gewicht ihrer Worte. Es zog. Es
drückte. Sie hatten die Augen vor sich. Sie war nicht tot gewesen.
Da hatte einer ein bewusstloses Mädchen im Auto, dessen
Bewusstlosigkeit er vermutlich selbst verschuldet hatte, fuhr los vom Rastplatz
hinaus auf die Autobahn und sprang plötzlich mit einer Wucht auf die Bremsen,
dass es den Wagen vom Pannenstreifen hinaus auf den Grasrain katapultierte.
Dann schleifte er das Mädchen hinaus ins Gras, überließ es seinem Schicksal und
brauste davon.
Warum? War er in Panik geraten? Weil sie, die
Totgeglaubte, sich plötzlich regte? Weil alles immer komplizierter wurde? »Und
dann?«
»Dann ist sie wohl zu sich gekommen. Ist aufgewacht.
Wusste nicht, was geschehen war. Lag da im Gras, im Regen, in ihrem dünnen
Seidenkleid, durchnässt bis auf die Haut, nur ein Schuh. Es muss kalt gewesen
sein.« Wieder schwiegen sie. Es bedurfte des Schweigens. »Und dann?«, fragte
Franza wieder.
»Und dann«, sagte Herz, »dann ist sie einfach los.
Vielleicht hat sie Licht gesehen. Und ist darauf zu. Wollte ein Auto anhalten.
Und ging ein paar Schritte zu weit.«
Vielleicht war sie verwirrt gewesen. Vielleicht hatte sie
Angst gehabt. Vielleicht hatte sie sich verfolgt gefühlt.
Sie wussten es nicht. Sie wussten nur, dass dann Bohrmann
da gewesen war. Mit seinem BMW. Wer hätte dem standhalten können?
Franza begann sich zu sehnen. Wie immer, wenn unklare
Todesfälle begannen, sich in ihr Hirn zu krallen und die Grenzen nicht wahrten
und sich einnisteten in Haut und Haar. Dann kam die Sehnsucht. Nach den kühlen
Wiesen. Dem Bach, der kein Fluss war. Der Eiseskälte, die hochkrabbelte an
ihren Kinderbeinchen, wenn sie in den Wellen stakste, vorbei an den glatten
Kieseln.
Sie würde weinen. An Ports Haut. Er würde sie halten.
Nichts würde deshalb gut sein.
»Wenn nicht er, dann ein anderer«, sagte Herz leise. »Sie
hätte das nicht überlebt.
Nicht bei diesem Verkehr. Nicht mehr um diese Zeit. Zwei
Stunden früher hätte sie vielleicht eine Chance gehabt. Wenn nicht...«
Franza nickte. »Sie hätte ein bisschen Glück gebraucht.«
»Ach, weißt du«, sagte Herz langsam, »ich glaube, das
hätte ihr in diesem Fall gar nichts genützt.«
Franza schaute ihn fragend an. »Wie meinst du das?«
Er strich sich nachdenklich über das Kinn, das er heute
vergessen hatte zu rasieren, was wohl an Angelikas frühmorgendlichen
Geständnissen lag.
»Unsere Zeugen, du weißt schon, dieser Dr. Franke und
seine Frau, die haben etwas sehr Interessantes beobachtet. Während er zur
Unfallstelle zurücklief, hat sie im Wagen gewartet und den Notruf gewählt, und
da hat sie gesehen, dass fünfzig Meter weiter
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