Das Reich der Traeume
tauchte die Szene in ein gespenstisches weiÃes Licht. In dem Raum sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Mahania stand zwischen den Bücherstapeln, die ihre Schatten auf die Wand und auf den von Papieren übersäten Boden warfen.
âºEs ist ein Junge!â¹, verkündete Mahania und reichte mir das Baby.
Genau in diesem Moment blies eine starke Windböe durch das Fenster und feuchte Luft fegte durch den Saal. Ich hatte weder Handtücher noch Decken zur Hand. Also hob ich eines der zusammengerollten Pergamente vom Boden auf, rollte es aus und benutzte es als Laken. Damit hüllte ich den winzigen Körper meines kleinen Arturo ein, um ihn vor der Kälte und dem Regen zu schützen. Vor Freude zitternd, drückte ich ihn an meine Brust.
Dann ging ich mit dem Kleinen zu meiner Frau, um ihn ihr zu zeigen.
âºUnser Sohnâ¹, flüsterte sie. âºUnser geliebter Sohn â¦â¹
âºWir werden ihn Arturo nennenâ¹, sagte ich. âºWie wir es besprochen haben. Nach dem Gründer der Stiftung.â¹
Unsere Hände verschränkten sich genau in dem Augenblick, als der Tempel erneut in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Für den Bruchteil einer Sekunde war es taghell.
Einige der Bücherstapel brachen zusammen und die Bücher verteilten sich über den Boden. Die Erschütterung war so groÃ, dass wir einen Moment lang befürchteten, der alte Tempel würde endgültig in sich zusammenfallen.
In fast völliger Dunkelheit warteten wir, bis wie durch ein Wunder die Sonne wieder hervorkam und uns von unseren Ãngsten befreite.
Doch dann begannen die schlimmsten Tage meines Lebens. Weitab jeder Zivilisation musste ich hilflos mit ansehen, wie es Reyna von Stunde zu Stunde schlechter ging. Vergeblich versuchte ich, den Motor des Kleinbusses zu starten. Ich erfuhr erst später, dass man uns etliche Motorteile geklaut hatte.
Zwei Tage darauf starb Reyna.
Als die Soldaten wiederkamen, war es zu spät. Wir hatten meine Frau bereits bestattet. Sie ruht noch heute in einem Grab, wenige Meter vom Tempel des Sonnengottes Ra entfernt, in der ägyptischen Wüste, ganz in der Nähe des Nils.
Seitdem werde ich von Gewissensbissen geplagt. Es ist die Hölle. Ich kann mich nicht von meinen Schuldgefühlen befreien. Wenn ich die verfluchte Reise nicht unternommen hätte und wir hiergeblieben wären, wäre es nie zu dieser Tragödie gekommen.«
Mein Vater schweigt lange.
Tief bewegt gehe ich zu ihm und umarme ihn so fest, wie ich es noch nie getan habe. Es ist, als hätten wir uns endlich miteinander ausgesöhnt.
»Es tut mir leid«, sagt Norma. »Es tut mir wirklich leid.«
Mein Vater versucht, die Beherrschung zurückzugewinnen, und trinkt einen Schluck Wein.
»Nun«, sagt er seufzend, »das ist eine alte Geschichte, die endgültig der Vergangenheit angehört.«
Mahania räumt den Tisch ab und geht hinaus. Ich sehe, dass auch sie Tränen in den Augen hat.
»Reden wir von etwas anderem«, sagt mein Vater, bemüht, die schlimmen Erinnerungen für einen Moment zu vergessen.
»Und was geschah mit dem Pergament?«, fragt Norma mit tränenerstickter Stimme.
»Es ist dort geblieben. Ich wollte es mitnehmen, aber ich bekam keine Erlaubnis. Nicht einmal mit viel Geld konnte ich es erwerben. Und ich hätte wirklich alles dafür gegeben.«
»Vielleicht kannst du es ja irgendwann noch bekommen«, sagt Norma. »Die Situation hat sich geändert, es könnte sein, dass die ägyptischen Behörden ein Auge zudrücken. SchlieÃlich bist du Wissenschaftler, kein Geschäftsmann.«
»Falls es das Pergament überhaupt noch gibt! Manchmal glaube ich, es ist vielleicht schon längst zerstört«, sagt mein Vater traurig. »Da unten in der Wüste, bei Sonne und Regen, ungeschützt ⦠Wer weiÃ, wo es jetzt ist.«
»Hast du Reynas Grab noch einmal besucht?«
»Ich wollte es, aber es ist durch Erdrutsche verschüttet worden. Ich konnte es nicht wiederfinden. Weder das Grab noch das Pergament.«
Mit geröteten Augen bringt Mahania eine Torte mit vierzehn brennenden Kerzen herein.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, rufen alle im Chor. »Herzlichen Glückwunsch, Arturo!«
Es ist das erste Mal, dass ich meinen Geburtstag mit so vielen Leuten feiere. Vor Rührung fange ich fast an zu weinen.
»Danke, Papa!«, murmele ich.
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