Das Reich in der Tiefe
die Stelle der Höhlendecke zu suchen, von der er gekommen war, und fand dort das ausgedehnteste lichtlose Loch des ganzen Gewölbes. Das ausgezackte dunkle Oval hob sich scharf ab. Blitzartig begriff er, daß der Berg, auf dem er sich befand, nichts anderes war als ein Schutthaufen von Lava und Gestein, vor Zeiten von der Höhlendecke herabgestürzt.
Mühsam kroch er auf sein Lager zurück. Ein schmerzhaftes Gefühl des Verlorenseins überkam ihn. Wie sollte er aus dieser absurden Welt wieder heimfinden in seine eigene? Andrängende Gedanken ließen ihn seine Hilflosigkeit und die Atembeschwerden vergessen.
Er dachte, daß es nicht schaden könne, wenn man ihm jetzt etwas zu essen und zu trinken brächte. Als ob dieser Wunsch seine Betreuer herbeigerufen hätte, drehte sich alsbald der Türschlüssel und Rocco, der Führer der Expedition, sowie der Arzt traten ein. Da sie das geöffnete Fenster bemerkten, waren sie recht ungehalten. Was ihm dann mit scharfer Betonung gesagt wurde, verstand er nicht, es war aber sicherlich ein Verbot, das Bett zu verlassen und dadurch seine Genesung zu gefährden. Nun bekam er zu essen und zu trinken. Hauptbestandteil der Mahlzeit war eine rotbraune Masse, die fleischähnlich schmeckte, dazu gab es süßes Wurzelgemüse und wohlschmeckendes Mineralwasser als Getränk.
Nach dem Essen blieb Rocco, der Mann, der ihn an der Feuerstelle auffand, allein da. Er holte eine dünne Metalltafel herbei und zeichnete mit Farbstift etwas auf, was, wie leicht zu erraten, der Grundriß des Höhlenlandes sein sollte. Zu Anfang setzte er ein farbiges Kreuz hin, machte durch sprechende Gebärden klar, daß damit der eigene Standort gemeint sei und wiederholte dreimal das Wort Apaxi – so hieß also der Berg! Rings herum zeichnete er eine kreisähnliche Linie und formte daneben eine größere Figur, die entfernte Verwandtschaft mit einem Trapez hatte. Fünfmal legte Rocco seine Hand auf die Zeichnung und sprach das Wort „Cheti“ aus.
Klaus begriff. Das ganze Höhlensystem hieß Cheti. Im Süden besaß es noch eine Fortsetzung, welche Rocco jetzt als dreizackige Krone einzeichnete, das Land Mog. Der Lehrer sah sich einen Augenblick unschlüssig um, dann packte er den Kranken samt seiner Decke, trug ihn darin aus der Tür in eine entgegengesetzt gelegene leere Turmstube, stellte ihn vorsichtig auf die Füße, wobei er ihn stützte, und öffnete das Fenster. Jetzt wurde Klaus erst klar, was sein Lehrer beabsichtigte, er wollte ihm das Land Mog zeigen! Rocco wies in die Ferne. Auf eine Breite von 60 oder 70 Kilometer war das Höhlenland dort im Süden durch einen gewaltigen Steilhang abgeschlossen, der mindestens so hoch zu sein schien wie der isolierte Berg Apaxi. Die Hochebene hinter dem Steilhang, sich in eine rot dämmrige Ferne ausdehnend und in drei tiefen Einbuchtungen der Felswände endend – das war Mog! Rocco streckte nochmals den Arm aus, der Schüler versuchte zu erkennen, worauf er deutete. Da, wo im Westen Höhlenwand und Steilhang zusammenstießen, sprang dieser ein paar Kilometer nach Süden zurück. Nach Roccos Gesten zu schließen, lag dort ein bemerkenswerter Punkt. Aber trotz intensiver Bemühung seines Lehrers, der ihn schließlich ins Bett zurückschleppte, begriff Erichsen nicht, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Mit dem Ortsnamen „Huapi“ wußte er wenig zu beginnen. Auf diese Metalltafel mit der Zeichnung des Landes Cheti malte Rocco nach dieser Unterbrechung nochmals zwei Kreuze in den Teil jenseits der Einschnürung. Klaus verstand, daß dort zwei Städte lagen, Atakor, die Hauptstadt dicht hinter der Enge, und Kla nordwestlich davon.
Erichsen wollte jetzt die Entfernungen wissen. Rocco deutete auf seinen Unterarm, die Elle war also hier die gebräuchliche Längeneinheit. Weiter lehrte ihn Rocco mit Hilfe seiner Finger und Zehen die Namen der Zahlwörter. Klaus holte aus seinem Rock ein altes Notizbuch, das ihm noch Lemaire geschenkt hatte, und ein Stückchen Bleistift, notierte die Zahlwörter, um sie danach auswendig zu lernen, ein Beginnen, dem Rocco mit großer Verwunderung zusah. Zum Schluß nannte der Lehrer die Längenmaße der Höhle und die Entfernungen von hier zu den Städten, und damit fand diese erste aufschlußreiche Stunde ihr Ende.
Erichsen hatte jetzt ausreichend Stoff, um seinen Geist zu beschäftigen, er machte sich das Zahlen- und Rechensystem zu eigen, rechnete aus, daß nach Roccos Angaben die Chetihöhle etwa den Flächeninhalt Belgiens
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