Das Reigate-Rätsel
Noch einige Minuten redete er so philosophisch dahin, bis ihm die junge Dame ins Wort fiel:
»Haben Sie eine Idee, Mr. Holmes? Können Sie uns sagen, ob Sie diesen Fall werden lösen können?« Ein Hauch von Sc härfe war in ihrer Stimme.
»Oh, das Rätsel! « sagte er und richtete sich voll auf, so als sei er soeben wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgekehrt. »Nun, ich will zugeben, daß der Fall sehr verwickelt und hintergründig ist. Ein wahrhaft komplizierter Fall. Aber ich verspreche Ihnen, daß ich mich darum kümmern werde. Ich lasse Sie dann alle Ergebnisse wissen.«
»Haben Sie schon einen Anhaltspunkt?«
»Sie haben mir deren sieben mitgeteilt, aber ich muß erst nachprüfen, welchen Wert jeder einzelne Anhaltspunkt hat.«
»Verdächtigen Sie jemanden?«
»Ich verdächtige mich selber!«
»Was?«
»Ich habe den Verdacht, zu schnell zu einer Lösung zu kommen. «
»Dann sollten Sie zurück nach London fahren und Ihre Lösungsmöglichkeiten nachprüfen.«
»Das ist ein ausgezeichne ter Rat, Miss Harrison«, sagte Holmes und erhob sich, »ich denke, daß wir nichts Besseres tun können, Watson. Bitte, geben Sie sich keiner falschen Hoffnung hin, Mr.
Phelps, diese Affäre ist sehr verwickelt.«
»Ich fiebere Ihrem Wiederkommen entgegen.«
»Wir werden morgen mit dem gleichen Zug wieder hier sein. Möglicherweise müssen Sie sich aber auf eine negative Antwort gefaßt machen.«
»Der Himmel segne Sie für das Versprechen, überhaupt wiederzukommen«, rief unser Klient aus.
»Dies Wissen, daß überhaupt etwas unternommen wird, flößt mir neues Leben ein. Übrigens habe ich einen Brief von Lord Holdhurst bekommen. «
»Was schreibt er Ihnen?«
»Er schreibt einen kühlen, jedoch keinen harten Brief. Ich glaube, daß meine schlimme Krankheit ihn von Härte abgehalten hat. Er wiederholt mir, daß die Affäre weiterhin nichts von ihrer Bedeutung eingebüßt hat, daß jedoch keinerlei Schritte wegen meiner Zukunft - er meint damit meine Entlassung - unternommen werden sollen, bis meine Gesundheit vollkommen wiederhergestellt ist und ich Gelegenheit gefunden habe, mein Unglück wieder in Ordnung zu bringen.«
»Das ist doch sehr vernünftig und einsichtig«, sagte Holmes. »Kommen Sie, Watson, wir haben ein langes Tagewerk in London vor uns.«
Mr. Joseph Harrison fuhr uns zum Bahnhof, und bald saßen wir in dem Zug nach Portsmouth.
Sherlock Holmes war tief in Gedanken versunken, bis wir zur Clapham Junction kamen. »Es ist doch schon herzerhebend, mit einem dieser Züge wieder nach London zurückzukehren, von allen Seiten kommen sie. Und es ist interessant, die Häuser zu betrachten.«
Ich glaubte, er hätte sich einen Scherz erlaubt, denn die Häuser sahen eher nüchtern und vielleicht ein bißchen trübe aus. Aber er erklärte auch schon, was er meinte.
»Sehen Sie sich diese riesigen, isoliert stehenden Gebäudekomplexe an, die sich über den Schiefer erheben wie Inseln aus Stein in einem bleigrauen Meer.«
» Internatsschulen. «
»Leuchttürme, mein Lieber! Lichtstrahlen für die Zukunft. Kapseln mit Hunderten von kleinen, hellen Samenkörnern. Aus jeder Kapsel wird ein schöneres, weiseres England der Zukunft entspringen. Glauben Sie, daß Phelps trinkt?«
»Das glaube ich nicht.«
»Nein, ich glaube das auch nicht, aber man muß an alles denken. Der arme Teufel hat sich wirklich in unergründliche Tiefen hineinma növriert. Es ist die Frage, ob wir in der Lage sind, ihn wieder an Land zu ziehen. Was halten Sie von Miss Harrison?«
»Ein Mädchen mit festem Charakter.«
»Ja, ich glaube schon, daß sie sogar einen guten Charakter hat. Sie und ihr Bruder sind die einzigen Kinder eines Eisenwarenhändlers in Northumberland. Phelps hat sich mit ihr verlobt, als er letztes Jahr auf Reisen war. Sie kam hierher, um seiner Familie vorgestellt zu werden. Ihren Bruder hatte sie im Gefolge. Dann kam das Unglück. Sie blieb, um ihren kranken Liebsten zu pflegen, während ihr Bruder, der sich ebenfalls dort sehr wohl fühlte, auch gleich mit dort blieb.
Sehen Sie, ich habe ein paar Erkundigungen eingezogen. Aber wir werden den ganzen Tag brauchen, um uns weiter zu erkundigen.«
»Meine Praxis ... «, sagte ich.
»Oh, Sie finden Ihre eigenen Fälle interessanter als meine!« sagte Sherlock Holmes mit einer kleine Feindseligkeit in der Stimme.
»Ich wollte sagen, daß ich meine Praxis ein oder zwei Tage allein lassen kann, weil zu dieser Jahreszeit sowieso nicht soviel zu tun ist.
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