Das Reigate-Rätsel
konsultiert hatten. Es mußte wohl so gewesen sein, daß der Mann, der im Wartezimmer gesessen hatte, hinauf in die Wo hnung meines Hauspatienten gegangen war, als ich mit dem anderen beschäftigt war. Nichts war gestohlen oder auch nur berührt worden. Aber die Fußspuren waren ein deutliches Anzeichen dafür, daß hier jemand herumgelaufen war.
Ich wunderte mich ein bißchen, wie sehr Mr. Blessington sich über die Sache erregte. Wenn diese Zeichen wohl reichten, jemanden ein bißchen unruhig zu machen, so schien mir sein Verhalten sehr übertrieben. Er ist buchstäblich weinend auf einem Stuhl zusammengebrochen. Ich konnte ihn kaum dazu bringen, zusammenhängend zu reden. Er hat mir dann vorgeschlagen, ich möchte mich an Sie wenden. Das habe ich eingesehen. Der Vorfall ist schon merkwürdig, wenn ich auch glaube, daß er die Sache stark überbewertet. Wenn ich Sie also bitten darf, mit mir in meinem Wagen zurück in meine Praxis zu fahren, dann wäre es zumindest möglich, ihn ein wenig zu beruhigen. Ich kann mir diese seltsamen Vorkommnisse wirklich nicht erklären.«
Sherlock Holmes hatte dieser langen Geschichte mit großer Aufmerksamkeit gelauscht, ein Zeichen, daß sein Interesse hell- wach war. Sein Gesicht war so ruhig und ausdruckslos wie immer, aber die Lider fielen ihm schwerer über die Augen, und der Rauch seiner Pfeife kräuselte immer dicker zur Decke empor. Alles Zeichen, daß die Geschichte .des Doktors ihn neugierig gemacht hatte. Kaum hatte unser Besucher zu sprechen aufgehört, da sprang Sherlock Holmes auch schon auf und reichte mir ohne weitere Worte meinen Hut, nahm seinen eigenen vom Tisch und folge Dr. Trevelyan zur Tür. Eine Viertelstunde später befanden wir uns vor der Haustür des Arztes in der Brook Street. Es war eines der ernsten, nüchternen Häuser, wie sie für das Westend und eine Arztpraxis in der Gegend üblich sind. Ein kleiner Page ließ uns herein. Sofort gingen wir die mit guten Teppichen ausgelegte Treppe hinauf.
Ein merkwürdiger Zwischenfall hielt uns mitten auf der Treppe auf. Das Licht auf dem oberen Flur wurde plötzlich ausgeblasen, und aus der Dunkelheit kam eine dünne, zittrige Stimme:
»Ich habe eine Pistole, und ich schwöre, daß ich schießen werde, wenn auch nur einer einen Schritt näher kommt.« »Also, das ist nun wirklich ein bißchen viel, Mr. Blessington! « rief Dr.
Trevelyan.
»Oh, Sie sind es, Doktor«, stieß der Mann mit einem erleichterten Seufzer aus. »Aber was ist mit den beiden anderen Herren. Sind sie wirklich, was sie zu sein vorgeben?«
Uns war bewußt, daß er uns aus der Dunkelheit heraus scharf beobachtete. Endlich sagte die Stimme:
»Ja, ja, alles in Ordnung. Sie können heraufkommen. Es tut mir leid, daß ich Sie mit meinen Vorsichtsmaßregeln geärgert habe. «
Während er sprach, hatte er das Gas wieder angezündet. Vor uns stand ein seltsamer Mensch.
Nicht nur seine Stimme, sondern die ganze Gestalt verriet, daß er mit den Nerven völlig am Ende war. Der Mann war sehr fett, aber vor kurzem schien er noch fetter gewesen zu sein, denn die Hautfalten hingen in losen Taschen von seinem Gesicht herunter wie die Backen eines Bluthundes. Er hatte eine kränkliche Hautfarbe. Sein dünnes, sandfarbenes Haar schien sich vor Erregung zu sträuben. Er hielt immer noch die Pistole in der Hand, steckte sie aber in die Tasche, als wir näher kamen.
»Guten Abend, Mr. Holmes«, sagte er, »ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar, daß Sie zu mir herübergekommen sind. Niemand benötigt Ihren Rat dringender als ich. Ich nehme an, daß Dr.
Trevelyan Ihnen schon berichtet hat, daß jemand unerlaubt in meine Wohnung eingedrungen ist?«
»So ist es«, sagte Sherlock Holmes, »bitte, Mr. Blessington, erzählen Sie uns jetzt: Wer waren diese zwei Männer, und aus welchem Grunde bedrohen sie Sie?«
»Mr. Holmes«, sagte der Mann in seiner nervösen Art, »das kann man natürlich schwer sagen.
Sie erwarten doch wohl nicht, daß ich Ihnen darauf antworte, Mr. Holmes.«
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie es nicht wissen?« »Kommen Sie doch her! Bitte kommen Sie hier herein.«
Er führte uns in ein Schlafzimmer, daß sehr geräumig war und gemütlich eingerichtet.
»Sehen Sie das da«, sagte er und zeigte auf eine große schwarze Kiste am Ende seines Bettes.
»Ich bin niemals ein reicher Mann gewesen, Mr. Holmes, niemals. Ich konnte nur einmal etwas investieren, wie Dr. Trevelyan Ihnen bestimmt erzählt haben wird. Aber ich vertraue den
Weitere Kostenlose Bücher