Das Reigate-Rätsel
isoliertes Phänomen, das ein Gehirn, aber kein Herz besaß. Er besaß ein Übermaß an Intelligenz, wie er ein Defizit an menschlicher Wärme und Sympathie zu haben schien. Wenn es nun auch in das Bild seines völlig unemotionalen Charakters paßte, daß er Frauen ablehnte und eine große Scheu davor hatte, neue Freundschaften zu gründen, so kann man doch schwerlich den, Grund im Charakterlichen sehen, daß er seine Vergangenheit versteckte und jeglichen familiären Hintergrund verschwieg. Ich war zu der Überzeugung gelangt, daß keiner seiner nahen Verwandten mehr lebte und daß er als Waise aufgewachsen war. Um so mehr erstaunte es mich, als er eines Tages von seinem Bruder sprach.
Es war an einem Sommerabend nach dem Tee. Unsere Unterhaltung hatte mehrere Themen umkreist, wir hatten bei den Golfclubs bego nnen und endeten nun bei einer Diskussion um die Ursache der wechselnden Abweichungen der Ekliptik, von da aus waren wir zu der Frage der vererbten oder anerzogenen,, Intelligenz gekommen. Wir diskutierten, wieweit ein Mensch; seine Begabungen und Fähigkeiten seinen Vorfahren zu verdanken hat und wieviel er durch eigenes Training entwickeln kann.
»Nehmen wir Ihren eigenen Fall«, sagte ich. »Aus allem, was Sie mir erzählt haben, scheint es klar, daß Ihre Fähigkeit des Beobachtens und Schlußfolgerns auf Ihr eigenes Trainingssystem zurückzuführen ist. «
»Bis zu einem gewissen Grade, ja«, antwortete er gedankenvoll. »Meine Vorfahren gehören zum Landadel. Sie haben ein in dieser Klasse übliches, normales Leben geführt. Wie auch immer, ich glaube, dies bestimmte Blut, das durch meine Adern fließt, scheint von meiner Großmutter zu stammen. Sie war die Schwester von Verriet, dem großen französischen Künstler. Das Künstlerische im Blut nimmt leicht seltsame Formen an.«
»Woher wissen Sie, daß es Ihnen vererbt ist?«
»Weil mein Bruder Mycroft diese Gabe in einem noch höheren Maße besitzt.«
Das war nun eine Neuigkeit für mich. Wenn es einen zweiten Mann von solchen Geisteskräften in England gab, dann fragte ich mich, wieso weder die Polizei noch die Öffentlichkeit je etwas von ihm gehört hatte. Ich stellte diese Frage und deutete gleichzeitig an, daß es doch sicherlich Bescheidenheit sei, die ihn die Größe seines Bruders herausstreichen ließ. Holmes lachte darüber.
»Mein lieber Watson«, sagte er, »mit Menschen, die Bescheidenheit für eine Tugend halten, stimme ich nicht überein. Der Logiker sollte alle Dinge so sehen, wie sie in Wirklichkeit sind.
Wenn sich einer nun selber klein macht, dann weicht er genauso gut von der Wahrheit ab, als wenn er sich als größer darstellt, als er in Wirklichkeit ist. Wenn ich also sage, daß Mycroft größere Beobachtungskräfte hat als ich, dann sage ich Ihnen ehrlich und lauter die Wahrheit. «
»Ist er jünger als Sie?«
»Nein, sieben Jahre älter.«
»Wie kann es dann kommen, daß niemand ihn kennt?«
»Oh, in seinen eigenen Kreisen ist er recht gut bekannt.«
»Wo befinden sie sich denn, seine Kreise?«
»Im Diogenes Club zum Beispiel.«
Von dieser Institution hatte ich noch niemals etwas gehört, und mein Gesicht mag das auch deutlich ausgedrückt haben. Sherlock Holmes zog seine Uhr hervor.
»Der Diogenes Club ist der seltsamste Club in London. Mycroft ist einer der seltsamsten Menschen. Die Zeit von Viertel vor fünf bis zwanzig Minuten vor acht verbringt er immer dort., Wenn Sie Lust haben, an diesem wunderschönen Abend einen Spaziergang zu unternehmen, dann wäre ich glücklich, Ihnen zwei Kuriositäten vorzustellen. «
Fünf Minuten später waren wir in Richtung Regent Circus unterwegs.
»Sie werden sich inzwischen sicherlich gefragt haben, weshalb Mycroft seine Gabe des Beobachtens nicht für die detektivische Arbeit nutzbar macht. Er kann es nicht. Es ist ihm einfach unmöglich. «
»Aber Sie sagten doch...«
»Ich sagte, daß er mir überlegen ist, was das Beobachten und Schlußfolgern anbelangt. Wenn das Aufdecken eines Verbrechens mit dem Argumentieren im Lehnsessel begänne und endete, dann wäre Mycroft der größte Detektiv, den die Welt je gesehen hätte. Er besitzt jedoch weder Ehrgeiz noch Energie. Er macht sich nicht einmal die Mühe, nachzuprüfen, ob seine eigenen Rückschlüsse auf Wahrheit beruhen. Lieber läßt er sich nachsagen, er habe unrecht, als daß er hingeht und beweist, daß er im Recht ist. Immer wieder habe ich dieses Problem mit ihm durchgesprochen. Schließlich habe ich eine
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