Das Reigate-Rätsel
die nachts ankommen, sich meines Dienstes bedienen. Es hat mich deshalb gar nicht überrascht, als am Montag abends spät ein Mr. Latimer bei mir klingelte und mich bat, ihn in seinem Wagen zu begleiten. Er war ein modisch gekleideter junger Mann, und der Wagen wartete bereits vor der Tür. Er erklärte mir, daß ein griechischer Geschäftsfreund ihn besuche und daß er nur seiner griechischen Muttersprache mächtig sei, so daß die Hilfe eines Dolmetschers unentbehrlich sei.
Er entschuldigte sich, daß sein Haus ein bißchen weit entfernt sei, es liege nämlich in Kensington. Er schien es sehr eilig zu haben und drängte mich förmlich in die Kutsche.
Der Wagen war sehr viel geräumiger als die üblichen Mietswagen, diese vierrädrigen Gefährte, mit denen London verunziert wird. Die Innenausstattung war ein wenig verschlissen, jedoch von bester Qualität. Mr. Latimer hatte mir gegenüber Platz genommen. Zunächst ging die Fahrt durch Charing Cross und die Shaftesbury Avenue hinauf. Als wir dann jedoch in die Oxford Street gelangten, bemerkte ich, daß dies aber wohl ein Umweg sei, wenn wir nach` Kensington führen.
Auf diese Bemerkung reagierte mein Begleiter auf eine ganz ungewöhnliche Weise. Er zog nämlich aus seiner Tasche einen recht gefährlich aussehenden Schlagstock, der zu allem Überfluß noch mit Blei verstärkt war. Diesen schwang er eine Weile hin und her, so als wollte er die Schlagkraft prüfen. Ohne ein weiteres Wort legte er die Waffe neben sich auf den Sitz. Danach rollte er beide Fenster hoch, die, wie ich zu meiner großen Verblüffung feststellte, innen mit Papier verklebt waren. Nun konnte ich also nicht mehr sehen, welchen Weg wir nahmen.
>Es tut mir leid, daß ich Ihre Sicht ein wenig behindern muß, Mr. Melas<, sagte er. >Der Grund dafür ist, daß ich nicht möchte, daß Sie sehen, wohin wir fahren. Falls Sie sich dort nämlich eines Tages alleine einfinden sollten, könnte es ein bißchen unangenehm für mich werden.< Wie Sie sich gut vorstellen können, war ich über diese Art der Behandlung sehr erschüttert. Mein Begleiter war ein breitschultriger, kraftvoller junger Mann. Ganz abgesehen von seiner Waffe hätte ich im Kampf mit ihm nicht die geringste Chance gehabt.
>Ihr Benehmen ist wirklich höchst seltsam, Mr. Latimer<, stammelte ich. >Es muß Ihnen doch klar sein, daß Sie sich in Ihrer Handlungsweise außerhalb der Legalität befinden.<
>Ich habe mir ein paar Freiheiten herausgenommen, ganz gewiß<, sagte er. >Aber ich werde es Ihnen gegenüber wieder gutmachen. Trotzdem, Mr. Melas, muß ich Sie warnen. Falls Sie vorhaben, heute Abend Alarm zu schlagen oder irgend etwas unternehmen, das gegen mein Interesse gerichtet sein könnte, werden Sie sich ernsthaft in Schwierigkeiten befinden. Ich möchte Sie daran erinnern, daß niemand weiß, wo Sie sich im Augenblick befinden. Ob in meinem Wagen oder in meinem Haus, Sie sind in meiner Gewalt.< Er hatte ganz ruhig gesprochen, aber etwas Schneidendes, Drohendes war im Ton seiner Stimme gewesen. Ich schwieg und fragte mich, warum ich auf diese wunderliche Weise entführt worden war und was dabei herauskommen sollte. Was immer mir auch zustoßen mochte, es war völlig sinnlos, daß ich mich wehrte. Ich konnte nur abwarten, wie sich die Dinge entwickeln würden.
Zwei Stunden rollten wir dahin, ohne daß ich eine Ahnung hatte, wohin wir fuhren. Aus dem Geratter der Räder kann man nicht viel sagen, manchmal ging es über Kopfsteinpflaster, manchmal über Asphalt. Abgesehen davon aber hatte ich nicht die geringste Ahnung davon, wohin die Reise gehen sollte. Kein Geräusch drang von außen in den Wagen hinein, das mir hätte Aufschluß geben können. Die papierverklebten Fenster ließen keinen Lichtschein durch, und das Glasfenster nach vorne war mit blauen Gardinen verhängt. Um Viertel nach sieben hatten wir die Pall Mall verlassen. Als der Wagen endlich anhielt, zeigte die Uhr zehn Minuten vor neun. Mein Begleiter ließ das Fenster herunter, und ich erhaschte einen Blick auf ein niedriges, mit einem Rundbogen versehenes Tor, über dem eine einzelne Laterne hing. Als ich aus dem Wagen stieg, wurde das Tor aufgeschwungen. Ich ging hindurch und befand mich im Innenhof eines Hauses.
Ich hatte den Eindruck, daß zu beiden Seiten Rasenflächen und Bäume standen, ob ich mich jedoch auf einem Privatgrundstück befand oder mitten auf dem Lande, das kann ich gewiß nicht sagen. Im Haus brannte eine einzelne Lampe. Aber diese war mit buntem
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