Das Reigate-Rätsel
Kommandogewalt.«
»Königliche Artillerie, könnte ich mir vorstellen«, sagte Sherlock.
»Und Witwer.«
»Aber ein Kind hat er.«
»Kinder, mein lieber Junge, mehrere Kinder.«
»Kommen Sie«, rief ich lachend, »dies hier ist alles ein bißchen viel für mich.«
»Aber das ist doch sicherlich nicht schwer herauszufinden«, antwortete Holmes. »Ein Mann, der sich trägt wie dieser da, der einen solchen Ausdruck von Autorität im Gesicht hat und dazu eine derartig sonnenverbrannte Haut, der kann nur Soldat sein, und zwar Berufssoldat, der eben aus Indien zurückgekehrt ist. «
»Daß er noch nicht lange aus dem Dienst entlassen worden ist, sieht man daran, daß er immer noch die so genannten >Knobelbecher< trägt«, bemerkte Mycroft.
»Er hat nicht den Schritt eines Kavalleristen, und doch trägt er seinen Hut zur Seite hin geneigt.
Man sieht an den Augenbrauen, eine Seite ist heller als die andere. Daß er kein Schwächling zu sein scheint, verrät uns sein Gewicht. So muß er wohl zur Artillerie gehört haben.«
»Er trägt, wie Sie sehen, vollständige Trauerkleidung. Das bedeutet, daß er einen lieben Menschen verloren hat. Er erledigt den Einkauf, so wird ihm wohl die Frau gestorben sein. Sehen Sie, er hat etwas für Kinder eingekauft. Die Klapper verrät uns, daß eines der Kinder noch sehr klein ist. Möglicherweise ist die Frau bei der Geburt des Kindes gestorben. Außer der Klapper trägt er ein Bilderbuch unter dem Arm, was uns beweist, daß er mindestens noch ein zweites Kind zu versorgen hat.«
Ich begann die Bemerkung meines Freundes zu verstehen, sein Bruder habe eine noch schärfere Beobachtungsgabe als er. Er blickte zu mir herüber und lächelte. Mycroft nahm eine Prise Schnupftabak. Ein Stäubchen, das sich auf seine Jacke verirrt hatte, wedelte er mit einem großen seidenen Taschentuch fort. »Ach, übrigens, Sherlock«, sagte er, »ich habe da etwas, das dir gefallen könnte - ein einmaliges Problem, soweit ich das beurteilen kann. Ich kann die Energie nicht aufbringen, die Sache wirklich zu Ende zu verfolgen, aber sie hat mir vergnügliche Stunden und viel interessante Spekulation bereitet. Wenn du die Einzelheiten hören möchtest...«
»Mein lieber Mycroft, es wird mir ein Vergnügen sein.« Der Bruder schrieb etwas auf ein Blatt seines Notizbuches, klingelte, ein Kellner erschien, und Mycroft übergab ihm den Zettel.
»Ich habe Mr. Melas gebeten, zu uns herüberzukommen«, sagte er. »Seine Wohnung liegt direkt über meiner. Wir kennen uns flüchtig. Daher wandte er sich an mich, als er selber nicht mehr wußte, wie er sich verhalten sollte. Mr. Melas ist gebürtiger Grieche. Er ist ein ausgezeichneter Linguist. Sein Geld verdient er damit, daß er sich in den Gerichtssitzungen als Übersetzer verdingt. Daneben ist er noch als Führer für die reichen Orientalen tätig, die in den Northumberland-Hotels absteigen. Ich denke, wir überlassen es ihm, uns seine sehr interessante Geschichte zu erzählen.«
Einen Augenblick später gesellte sich ein untersetzter, kräftig gebauter Herr zu uns. Sein olivenfarbenes Gesicht und die kohl-schwarzen Haare wiesen ihn als Südländer aus. Allerdings sprach der Mann wie ein gebildeter Engländer. Er schüttelte Sherlock Holmes herzlich die Hand und war sehr erfreut, daß, dieser Spezialist bereit war, sich seine Geschichte anzuhören.
»Ich fürchte, daß die Polizei mir keinen Glauben schenken wird - darauf kann ich mein Wort verwetten,« sagte er in klagendem Ton. »Nur weil sie selber etwas nicht kennen und verstehen, glauben sie, es gibt diese Sache gar nicht. Aber ich werde nicht wieder ruhig schlafen können, bis ich nicht weiß, was aus dem armen Mann geworden ist, dessen Gesicht so sehr mit Pflastern verklebt war.«
»Ich bin bereit, Ihnen zuzuhören«, sagte Sherlock Holmes. »Heute ist Mittwoch - gut. Es geschah am Montag, ist also nur zwei Tage her, wissen Sie. Mein Nachbar hat Ihnen sicherlich verraten, daß ich Dolmetsche r bin. Ich übersetze alle Sprachen oder wenigstens doch nahezu alle. Aber da ich Grieche bin, in Griechenland geboren, ist meine Muttersprache natürlich Griechisch, und so habe ich auch am meisten mit griechischen Übersetzungen zu tun. Seit vielen Jahren bin ich der Hauptdolmetscher in London. Mein Name ist in allen Hotels gut bekannt.
Es geschieht gar nicht so selten, daß ich zu ungewöhnlichen Tages- und Nachtzeiten zu Fremden gerufen werde, die in Not geraten sind. Es kann auch vorkommen, daß Reisende,
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