Das reine Karma 2
sich andere Menschen unterzuordnen. Treplew hat keinen Inhalt, er ist ein informell abgeschlossenes System, deshalb sind seine Stücke leer und seelenlos. Und das stellt Nina fest. Deshalb verliebt sie sich in Trigorin, bei dem alles umgekehrt ist. Für diesen Menschen ist die Form gleichgültig, und er ist bereit, jede Situation ohne hysterische Anfalle, Klagen und Verurteilungen zu akzeptieren.
Es gibt den Begriff „ad absurdum führen“. Bei Treplew geht der Unwille, traumatisierende Situationen zu akzeptieren, in das Verlangen über, den anderen oder sich zu töten. Eben deswegen will er Trigorin töten, und tötet die Möwe. Doch hinter der Tötung der Möwe steckt ein anderer Sinn. Höhepunkt des Stücks ist nicht der Selbstmord Treplews, sondern die Tötung der Möwe und die Worte Ninas, die sich mit der Möwe vergleicht und bereit ist, Qualen und Leid zu ertragen, um ihre Seele zu reinigen und zu erleuchten. Für sie kommt das in dem Wunsch zum Ausdruck, Schauspielerin zu werden. Der Beruf des Schauspielers wird durch irdische Werte — Ruhm und Image — belastet, daher verläuft bei Nina nicht alles glatt. Doch in ihrer Erklärung ist das Wichtigste enthalten, nämlich der Wunsch, die Interessen des Geistes über die Interessen des Körpers zu stellen. Treplew will nicht leiden und gedemütigt werden, um dadurch seine Seele zu reinigen. Als Antwort auf Unbill verurteilt, verachtet und hasst er, und der Akt der Tötung der Möwe bedeutet, dass in seiner Seele der Wunsch getötet wurde, die Priorität von Geisteswerten zu bewahren. Nach geraumer Zeit wird seine Seele noch leerer, und nur die physische Hülle bleibt zurück. Indem er die Möwe tötet, sagt sich Treplew von der Entwicklung los, deshalb ist er auch physisch dem Untergang geweiht. Er hätte sich das Leben genommen, auch wenn er nicht Nina begegnet wäre. Er hätte sich deshalb nicht unbedingt erschießen müssen, sondern nur einfach zu erkranken und sich nicht zu behandeln lassen brauchen. Nina spürt, dass sich seine innere Leere verstärkt hat, und deshalb weist sie Treplew zurück, obwohl sie von Trigorin verlassen wurde und sich in einer Notlage befindet. Sich für Treplew zu entscheiden, würde bedeuten, die eigene Seele zu töten, und das will sie nicht. Im Prinzip entscheiden die Helden eines jeden Stücks die Frage „Sein oder nicht sein?“ Ja, das Wichtigste ist „sein oder nicht sein“. Das ist die Lösung der uralten Frage, was wichtiger ist — Körper oder Geist. Und in „Hamlet“ entscheidet jeder Held sofort, in jeder Handlung und in jedem Satz, was für ihn von höherem Wert ist — Edelsinn oder ein Stück Brot. Die Heldin der „Möwe“ entscheidet sich in dieser Frage wie Hamlet.
Der Selbstmord von Treplew ist keine Tragödie, er hat sich von Anfang an für den Körper entschieden. Die Handlungen eines Menschen, „der sein Leben wegen eines Jacketts verloren hat“, sind eher komisch als tragisch. Unser Körper — das ist eben dieses Jackett, deshalb kann „Die Möwe“ weder Drama noch Tragödie sein, sondern nur Komödie. Wenn vom tragischen Aspekt des Stücks die Rede ist, dann ist das die Tötung der Möwe. Der Mensch tötet seine Seele wegen seiner Ambitionen, der maßlosen Überbetonung seiner äußeren Hülle. Wie kann ein Mensch vom Typ Treplews auf die Tötung eines Vogels reagieren? Er würde den Mörder des Vogels verachten, ihn Lump und Schuft nennen. Ein normaler Mensch würde diese Handlung auf jeden Fall verurteilen. Durch die Tötung der Möwe versucht Treplew, den anderen ein Psychotrauma zuzufügen. Wie nimmt Trigorin dieses Psychotrauma auf? Überhaupt nicht. „Ein schöner Vogel“, sagt er. Man darf auf Böses nicht mit innerem Hass und Verurteilung antworten. Das, was in den heiligen Büchern geschrieben steht, wird von Trigorin praktisch bestätigt. Gerade deshalb ist er talentiert. Auf dieser Grundlage kann man ein Schauspiel inszenieren, doch es wird nicht vollkommen sein. „Die ganze Welt ist eine Bühne, und alle Frau’n und Männer bloße Spieler“, sagte Shakespeare. Wenn beim Zuschauer das Gefühl entsteht, dass Trigorin gut und Treplew schlecht ist, dann wird das Schauspiel ein Misserfolg. Wenn er aber spürt, dass der Schuft und der Heilige den gleichen Ursprung haben wie auch Genie und Dummheit, wenn der Zuschauer spürt, dass durch die Schwäche des einen die Stärke des anderen entwickelt wird, dass Treplew und Trigorin nicht die Autoren der Komödie, die Leben genannt wird,
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