Das Rosie-Projekt
Kontakt zu vermeiden. Ich schaltete die Sprechverbindung ab.
Das Nachrichtenlicht an meinem Telefon blinkte. Meine Eltern und mein Bruder hatten angerufen, um mir zum Geburtstag zu gratulieren. Ich hatte bereits vor zwei Tagen, bei ihrem üblichen Sonntagsanruf, mit meiner Mutter gesprochen. In den letzten drei Wochen hatte ich versucht, ebenfalls ein paar Neuigkeiten mitzuteilen, von Rosie jedoch nichts erzählt. Sie hatten die Lautsprecherfunktion eingeschaltet und mir zusammen ein Lied gesungen – zumindest meine Mutter, während sie die anderen beiden zum Mitsingen aufforderte.
»Ruf zurück, wenn du vor halb elf wieder da bist«, sagte meine Mutter. Es war 22 : 38 Uhr, aber ich entschied, nicht pedantisch zu sein.
»Es ist 22 : 39 Uhr«, sagte meine Mutter. »Ich bin überrascht, dass du zurückrufst.« Natürlich hatte sie erwartet, dass ich genauestens auf die Zeit achten würde, was in Anbetracht meiner Geschichte nur logisch war, doch sie klang erfreut.
»Hey«, sagte mein Bruder. »Garry Parkinsons Schwester hat dich auf Facebook gesehen. Wer ist die Rothaarige?«
»Nur ein Mädchen, mit dem ich zusammen war.«
»Ja, ja, schon klar. Verarschen kann ich mich selber«, meinte mein Bruder.
Die Worte hatten auch für mich seltsam geklungen, aber es war kein Scherz gewesen.
»Wir sind nicht mehr zusammen.«
»Na, logisch.« Mein Bruder lachte.
Meine Mutter ging dazwischen. »Hör auf, Trevor. Donald, du hast uns gar nicht erzählt, dass du eine Freundin hattest. Du weißt, dass du immer …«
»Mom, er hat uns verarscht«, sagte mein Bruder.
»Ich
sagte
«, begann meine Mutter erneut, »dass du uns
jederzeit
jemanden vorstellen kannst,
wen
auch immer, egal, ob Frau oder
Mann
…«
»Lasst ihn in Ruhe, alle beide«, unterbrach mein Vater.
Eine Weile hörte ich nichts, nur unterdrückte Stimmen im Hintergrund. Dann sagte mein Bruder: »Entschuldige, Kumpel. Ich habe nur Spaß gemacht. Ich weiß, du hältst mich für einen konservativen Hinterwäldler, aber ich finde dich wirklich okay so, wie du bist. Ich fände es blöd, wenn du in deinem Alter immer noch denkst, ich hätte ein Problem damit.«
Also korrigierte ich an diesem bereits denkwürdigen Tag auch noch eine Fehleinschätzung, die meine Familie seit mindestens fünfzehn Jahren hegte, und outete mich als Hetero.
Die Gespräche mit Gene, Phil und meiner Familie waren überraschend therapeutisch wirksam gewesen. Ich brauchte keine
Edinburgher Postnatale Depressionsskala
, um zu wissen, dass ich traurig war, aber ich stand nicht mehr am Abgrund. Ich würde in naher Zukunft diszipliniert nachdenken müssen, um weiter sicher zu sein, aber im Moment musste ich den emotionalen Teil meines Gehirns nicht komplett abschalten. Ich wollte ein bisschen Zeit haben, um zu beobachten, wie ich mich nach den letzten Ereignissen fühlte.
Es war kalt, und der Regen prasselte, aber mein Balkon war geschützt. Ich brachte einen Stuhl und mein Glas nach draußen, ging dann wieder rein, zog den Pullover aus Rohwolle an, den meine Mutter mir zu einem früheren Geburtstag gestrickt hatte, und holte die Tequila-Flasche.
Ich war vierzig Jahre alt. Mein Vater hatte immer einen Song von John Sebastian gespielt. Dass er von John Sebastian war, weiß ich, weil Noddy Holder vorher ankündigt: »Und jetzt spielen wir einen Song von John Sebastian. Sind John-Sebastian-Fans unter euch?« Offenbar ja, denn bevor er zu singen begann, hörte man lauten, ausgelassenen Applaus.
Ich entschied, dass ich auch ein John-Sebastian-Fan war und den Song hören wollte. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich das Bedürfnis verspürte, ein spezielles Musikstück zu hören. Die nötige Technik dazu hatte ich. Oder ich hatte sie gehabt. Als ich mein Handy holen wollte, fiel mir ein, dass es in dem Jackett steckte, dass ich weggeworfen hatte. Ich ging rein, startete meinen Laptop, registrierte mich bei einer Webseite und lud
Darling Be Home
vom Album »Slade Alive!« von 1972 herunter. Dann fügte ich noch
Satisfaction
hinzu und verdoppelte auf diese Weise meine Musiksammlung. Ich holte meinen Kopfhörer aus der Schachtel, kehrte auf den Balkon zurück, schenkte mir noch einen Tequila ein und lauschte, wie diese Stimme aus meiner Jugend sang, sie habe ein Viertel ihres Lebens gebraucht, um zu erkennen, wer sie sei.
Mit achtzehn, kurz bevor ich zum Studieren von zu Hause auszog und – statistisch betrachtet – am Viertel meines Lebens angekommen war, hatte ich diesen Worten
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