Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rosie-Projekt

Das Rosie-Projekt

Titel: Das Rosie-Projekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Graeme Simsion
Vom Netzwerk:
zunächst für Computerwissenschaften ein, aber an meinem einundzwanzigsten Geburtstag beschloss ich, zur Genetik zu wechseln. Dies mag aus dem unbewussten Wunsch gerührt haben, Student zu bleiben, aber es war eine logische Wahl. Genetik war ein aufstrebendes Fachgebiet. In unserer Familie sind keine Geisteskrankheiten bekannt.
    Ich drehte mich zu Rosie und lächelte. Von meiner Schwester und dem Mobbing hatte ich ihr bereits erzählt. Die Aussage über Geisteskrankheiten war korrekt, es sei denn, ich zählte mich bei der Definition von »Familie« selbst hinzu. Irgendwo in einem medizinischen Archiv liegt eine zwanzig Jahre alte Akte mit meinem Namen und den Wörtern »Depression, bipolare Störung? Zwangsstörung?« und »Schizophrenie?« Die Fragezeichen sind wichtig, denn über die offensichtliche Beobachtung hinaus, dass ich deprimiert war, wurde keine definitive Diagnose gestellt, auch wenn die Psychiatrie versuchte, mich einer grob vereinfachten Kategorie zuzuordnen. Heute bin ich überzeugt, dass all meine Probleme einfach nur daher rührten, dass mein Gehirn anders konfiguriert ist als bei den meisten Menschen. Alle psychiatrischen Symptome lassen sich darauf zurückführen – und nicht auf eine zugrundeliegende Krankheit. Natürlich war ich deprimiert gewesen: Ich hatte keine Freunde, keinen Sex und kein gesellschaftliches Leben gehabt, da ich mit anderen Menschen nicht kompatibel bin. Meine intensive und konzentrierte Arbeitsweise wurde als Manie fehlgedeutet, mein Streben nach Ordnung als Zwangsstörung bezeichnet. Es war gut möglich, dass Julies Asperger-Kids im Verlauf ihres Lebens mit ähnlichen Problemen konfrontiert würden. Sie allerdings hatten bereits das Etikett eines zugrundeliegenden Syndroms erhalten, und vielleicht wäre man in der Psychiatrie intelligent genug, Ockhams Rasiermesser anzusetzen und einzusehen, dass solcherlei Probleme großenteils auf die Asperger-Konfiguration ihres Hirns zurückzuführen sind.
    »Was ist an deinem einundzwanzigsten Geburtstag passiert?«, wollte Rosie wissen.
    Hatte Rosie meine Gedanken gelesen? An meinem einundzwanzigsten Geburtstag hatte ich beschlossen, eine neue Richtung in meinem Leben einzuschlagen, weil jede Veränderung besser wäre, als im Depressionsloch steckenzubleiben. Tatsächlich hatte ich es mir bildlich als Loch vorgestellt.
    Ich erzählte Rosie einen Teil der Wahrheit. Normalerweise feiere ich meinen Geburtstag nicht, aber damals hatte meine Familie darauf bestanden und viele Freunde und Verwandte eingeladen, um meinen Mangel an eigenen Freunden auszugleichen.
    Mein Onkel hielt eine Rede. Ich sah ein, dass es Tradition war, Späße über den Ehrengast zu machen, aber mein Onkel ging so sehr in seiner Fähigkeit auf, die Leute zum Lachen zu bringen, dass er gar nicht wieder aufhörte und eine Geschichte nach der anderen erzählte. Schockiert musste ich feststellen, dass er extrem persönliche Fakten über mich kannte, die ihm nur meine Mutter mitgeteilt haben konnte. Sie zog ihn mehrfach am Arm, um ihn zum Aufhören zu bewegen, doch er beachtete sie nicht weiter und hielt erst inne, als er merkte, dass sie weinte. Bis dahin hatte er eine detaillierte Schilderung all meiner Fehler geliefert sowie all der Schmerzen und Scham, die sie verursacht hatten. Kern des Problems schien zu sein, dass ich ein klassischer Computerfreak war. Also beschloss ich, mich zu ändern.
    »Zu einem Genetikfreak«, sagte Rosie.
    »Das war nicht unbedingt mein Ziel.« Aber ganz offensichtlich das Ergebnis. Und ich hatte mich aus dem Loch befreit, um in einem neuen Bereich hart zu arbeiten. Wo blieb das Essen?
    »Erzähl mir mehr über deinen Vater.«
    »Warum?«
    Das Warum interessierte mich eigentlich nicht. Ich vollführte nur das sprachliche Äquivalent eines Ballwechsels, um Rosie die Verantwortung für den nächsten Schritt zuzuspielen. Das war ein Trick, den Claudia mir beigebracht hatte, um mit schwierigen persönlichen Fragen zurechtzukommen. Ich erinnerte mich an ihren Rat, ihn nicht zu oft einzusetzen. Aber dies war das erste Mal.
    »Ich schätze, ich will herausfinden, ob dein Vater der Grund dafür ist, dass du so verkorkst bist.«
    »Ich bin nicht verkorkst.«
    »Okay, nicht verkorkst. Tut mir leid, ich wollte nicht werten. Aber du entsprichst nicht gerade dem Durchschnitt«, sagte Rosie, Doktoranwärterin der Psychologie.
    »Das stimmt. Aber bedeutet ›verkorkst‹ dasselbe wie ›nicht gerade Durchschnitt‹?«
    »Schlechte Wortwahl. Streich das.

Weitere Kostenlose Bücher