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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Yan
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immer noch. Vater spürte die Landstraße in unmittelbarer Nähe; blassgelb konnte er sie undeutlich erkennen. Unmerklich öffneten sich kleine Löcher in dem dichten Nebelvorhang, und eine taugetränkte Hirserispe nach der anderen blickte meinen Vater traurig an; ehrfurchtsvoll starrte er zurück. Plötzlich wurde ihm klar, dass sie lebende Geister waren. Mit Wurzeln, die tief in der dunklen Erde vergraben waren, saugten sie die Kraft der Sonne und die Stärke des Mondes auf. Von Tau und Regen genässt, wussten sie um die Wege des Himmels und die Gesetze der Erde. An der Farbe der Hirse konnte er ablesen, dass die Sonne den verborgenen Horizont bereits in leidenschaftliches Rot getaucht hatte.
    Dann geschah etwas Unerwartetes. Vater hörte irgendwo vor sich einen schrillen Pfiff und einen lauten Knall.
    «Wer hat geschossen?» brüllte Kommandant Yu. «Welches dumme Arschloch war das?»
    Vater hörte, wie das Geschoß den dichten Nebel durchdrang, durch die Hirseblätter und -halme flog und eine der Rispen abschlug. Alles hielt den Atem an, als die Kugel durch die Luft flog und irgendwo landete. Der süßliche Geruch von Schießpulver durchzog den Nebel. Wang Wenyi schrie mitleiderregend auf: «Kommandant, mein Kopf ist ab! Kommandant, mein Kopf ist ab!»
    Kommandant Yu erstarrte für einen Moment, dann versetzte er Wang Wenyi einen Fußtritt und knurrte: «Vollidiot! Wie könntest du ohne Kopf reden?»
    Kommandant Yu stieß meinen Vater beiseite und ging nach vorne. Wang Wenyi wimmerte immer noch. Vater drängte sich vor, um den seltsamen Ausdruck in Wangs Gesicht besser sehen zu können. Eine dunkle Flüssigkeit strömte ihm über die Backe. Vater berührte sie mit dem Finger. Sie war warm und klebrig und roch fast so wie der Schlamm des Schwarzwasserflusses, nur frischer. Der Duft überdeckte das Pfefferminzaroma und die durchdringende Süße der Hirse und rief eine Erinnerung wach, die immer näher herankam. Wie Perlen auf einer Schnur verband sie den Schlamm des Schwarzwasserflusses, die schwarze Erde unter der Hirse, die ewig lebendige Vergangenheit und die unaufhaltsame Gegenwart miteinander. Zu manchen Zeiten schleudert dir alles auf der Welt den Geruch menschlichen Bluts entgegen.
    «Onkel», sagte Vater, «du bist verwundet.»
    «Douguan, bist du das? Sag deinem alten Onkel, ob sein Kopf noch auf den Schultern sitzt.»
    «Er ist noch da, Onkel, genau da, wo er hingehört. Nur dein Ohr blutet.»
    Wang Wenyi berührte sein Ohr und zog eine blutige Hand zurück. Erst schrie er erschreckt auf, dann blieb er wie erstarrt stehen. «Kommandant, ich bin verwundet! Ich bin verwundet!»
    Kommandant Yu kehrte von seinem Aussichtsposten zurück und legte die Hände um Wang Wenyis Kehle. «Hör auf zu schreien, oder ich erwürge dich!»
    Wang Wenyi wagte keinen Ton mehr von sich zu geben.
    «Wo bist du verwundet?» fragte Kommandant Yu.
    «Mein Ohr ...», weinte Wang Wenyi.
    Kommandant Yu zog ein weißes Stoffstück aus dem Gürtel, riss es durch und gab es Wang Wenyi. «Halte das darauf und sei ruhig. Bleib im Glied, und wenn wir an der Straße sind, kannst du dein Ohr verbinden.»
    «Douguan!» rief Kommandant Yu barsch. Vater antwortete, und Kommandant Yu nahm ihn bei der Hand und führte ihn beiseite. Wimmernd folgte Wang Wenyi.
    Der Unglücksschuss ging auf das Konto eines großen Kerls, den man den Stummen nannte. Er marschierte an der Spitze des Trupps und trug einen Rechen über der Schulter. Er war gestolpert, und dabei war sein Gewehr losgegangen, das ihm auf dem Rücken hing.
    Der Stumme war ein alter Freund des Kommandanten, ein Held der Wildnis, der mit ihm in den Hirsefeldern von Handkuchen gelebt hatte. Er hatte von Geburt ein verkürztes Bein und hinkte beim Gehen, aber deswegen war er nicht langsamer. Vater hatte ein wenig Angst vor ihm.
    Mit dem Morgengrauen hob sich endlich der dichte Nebelvorhang. In diesem Augenblick erreichte Kommandant Yu mit seinem Trupp die Landstraße von Jiao nach Pingdu. In meiner Heimat ist der August der Nebelmonat, vielleicht weil es in der Tiefebene so viele Sümpfe gibt. Als er die Straße betrat, fühlte sich Vater plötzlich leicht und behände. Endlich konnte er Kommandant Yus Mantelzipfel loslassen und federnden Schrittes weitergehen. Wang Wenyi dagegen, der das Stoffstück an sein verwundetes Ohr hielt, sah unglücklich in die Welt. Kommandant Yu legte ihm einen vorläufigen Verband an, der seinen halben Kopf einhüllte. Wang knirschte vor Schmerz mit den

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