Das Rote Kornfeld
haben Leute umgebracht, in ihre Kochtöpfe geschissen, in ihre Wasserbecken gepisst. Einmal wollte ich in dem Jahr Wasser holen, und du glaubst nicht, was in meinem Eimer war: ein menschlicher Kopf, an dem noch der Zopf hing ...»
Onkel Liu Luohan spielte eine beachtliche Rolle in der Geschichte meiner Familie, aber es gibt keine wirklichen Beweise dafür, dass er mit meiner Großmutter geschlafen hat, und ich glaube nicht, dass es stimmt. Ich verstand schon, was die alte Frau mit dem Kopf wie ein Tontopf sagen wollte, aber es war mir trotzdem peinlich. Onkel Luohan hat meinen Vater behandelt wie einen Enkel, also bin ich so etwas wie sein Urenkel. Und wenn mein Urgroßvater etwas mit meiner Großmutter hat, dann ist das doch Inzest, oder etwa nicht? Aber das ist alles Schwachsinn, weil meine Großmutter Onkel Luohans Chefin war und nicht seine Schwiegertochter, und die Bande zwischen ihnen waren wirtschaftlicher und nicht familiärer Natur. Er war ein loyaler alter Mann, der unserer Familiengeschichte zum Schmuck gereicht und ihr mehr Ruhm verliehen hat, als sie ohne ihn hätte. Ob meine Großmutter ihn geliebt hat oder ob er je zu ihr ins Bett geklettert ist, hat keinerlei moralische Bedeutung. Und wenn sie ihn geliebt hat? Ich bin fest davon überzeugt, dass sie tun durfte, was sie wollte, denn sie war eine Heldin des Widerstands, eine Vorkämpferin der sexuellen Freiheit, das Musterbild einer emanzipierten Frau.
In den Gemeindearchiven habe ich entdeckt, dass örtliche Arbeitskräfte aus den Bezirken Gaomi, Pingdu und Jiao im siebenundzwanzigsten Jahr der Republik insgesamt 400000 Arbeitstage im Einsatz waren, um auf Befehl des japanischen Militärs die Landstraße von Jiao nach Pingdu zu bauen. Der Verlust für die landwirtschaftliche Produktion war enorm, und in den Dörfern entlang der Landstraße gab es keinerlei Zugtiere mehr. Liu Luohan, der damals auf dem Feld arbeitete, ging mit einer Hacke auf die Maultiere los. Er wurde erwischt, und am nächsten Morgen banden ihn die japanischen Soldaten an einen Pfahl, zogen ihm bei lebendigem Leibe die Haut ab und hackten seine Leiche vor den Augen seiner Landsleute in Stücke. Seine Augen zeigten keine Furcht, und seinem Mund entströmten bis zum Augenblick seines Todes Flüche und Beschimpfungen.
3
Genau so war es, wie sie erzählte. Als der Ausbau der Landstraße unser Dorf erreichte, stand die Hirse hüfthoch in den Feldern. Außer ein paar winzigen Dörfern, zwei Flüssen, die sie durchzogen, und ein paar Dutzend gewundenen Feldwegen gab es auf der sumpfigen Ebene von fünfunddreißig mal dreißig Kilometern nichts als Hirse, die Wellen schlug wie ein grüner Ozean. Von unserem Dorf aus konnte man den Berg des Weißen Pferdes sehen, eine gewaltige Felsformation am Nordrand der Ebene, die aussah wie ein Pferd. Wenn die Bauern, die ihre Felder bestellten, nach oben blickten, sahen sie das Weiße Pferd, wenn sie nach unten blickten, die schwarze Erde, die ihren Schweiß trank und ihren Herzen Ruhe schenkte. Als sie hörten, dass die Japaner eine Straße durch die Ebene bauen wollten, wurden sie nervös. Sie ahnten die Katastrophe, die kommen musste.
Vater schlief, als die Japaner und ihre chinesischen Marionetten kamen, um Zwangsarbeiter mitzunehmen und die Pferde und Maultiere der Bauern zu beschlagnahmen. Der Tumult auf dem Brennereigelände weckte ihn. Großmutter nahm ihn bei der Hand, und sie rannten so schnell, wie es mit Bambusschuhen geht, zur Brennerei. Dort stand damals ein gutes Dutzend Fässer, jedes einzelne von ihnen randvoll von dem weißen Hirsebrand erster Qualität, dessen Duft über dem ganzen Dorf schwebte. Zwei japanische Soldaten in Khaki führten mit aufgepflanztem Seitengewehr die Aufsicht über zwei chinesische Marionettensoldaten in Schwarz, die mit umgehängtem Gewehr bemüht waren, unsere zwei großen schwarzen Maultiere von dem Katalpabaum auf dem Hof loszubinden. Onkel Luohan wollte sich auf den kleineren Chinesen stürzen, der den Haltestrick losmachte, aber der größere von beiden stieß ihn mit dem Gewehrlauf zurück. In der frühsommerlichen Hitze trug Onkel Luohan nur ein dünnes Hemd, und die Gewehrmündung hinterließ überall auf seiner entblößten Brust kleine runde blaue Flecken.
«Brüder», beschwor er die Soldaten, «wir können doch darüber reden. Wir können doch darüber reden.»
«Verschwinde, Bauerntrottel!» brüllte ihn der größere Soldat an.
«Die Tiere gehören doch jemandem»», sagte
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