Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
warteten vor der Tür im Flur, als Borghoff mit dem Bürgermeister und einigen anderen Ruhrortern aus dem Keller stieg. Die meisten der gestandenen Herren waren ein wenig grün um die Nase. Lina verstand augenblicklich: Dies war eine offizielle Leichenschau gewesen. Hatte man also wirklich ein totes Kind gefunden?
Borghoff grüßte sie höflich und wirkte für einen Moment verwirrt. Lina verstand und lächelte. «Darf ich vorstellen, Herr Commissar? Das ist meine Schwester Wilhelmine Bleibtreu.»
«Sie sind Zwillinge!», rief er erstaunt aus.
Selbst auf Minas verhärmtem Gesicht erschien ein Lächeln. Es war lange her, dass sie solches Erstaunen erlebt hatten.
«Wir sind hier, um meine Schwester anzumelden», erklärte Lina. «Aber da drin ist ein ganzer Trupp Wallonen …»
«Dann kümmere ich mich selbst darum», sagte Borghoff. «Meine Herren, entschuldigen Sie mich für einen Moment?»
Der Bürgermeister nickte. Als er an Lina und Mina vorbeiging, nickte er ausschließlich Lina einen kurzen Gruß zu und würdigte Mina keines Blickes. Lina erinnerte sich, dass auch er für eine kurze Zeit zu Minas zahlreichen Verehrern gezählt hatte. Nun, da sie die Frau eines Landesverräters war, wollte er nichts mit ihr zu tun haben.
Borghoff brachte die Damen in die eigentliche Polizeiamtsstube, in der nur Schröder gerade beschäftigt war.
«Schröder, würden Sie für Frau Bleibtreu die Fremdenpapiere ausfüllen?»
Er stellte Mina einen Stuhl vor Schröders Stehpult.
Schröder stellte Mina die üblichen Fragen: «Name?»
«Wilhelmine Elisabeth Bleibtreu, geborene Kaufmeister.»
«Geburtsdatum?»
«12. Juni 1819.»
«Wo?»
«In Ruhrort.»
Borghoff bot unterdessen Lina einen Stuhl vor seinem Schreibtisch an.
«War das eine Leichenschau eben?», fragte Lina unverblümt.
Borghoff nickte. «Ihre Neffen hatten recht. Kätt hatte ein totes Kind bei sich. Sie hat es gestern Morgen an der überschwemmten Baustelle des Hebeturms im Wasser gefunden. Ich habe mir die Stelle angesehen. Zwischen Spundwand und der ausgehobenen Grube klafft ein breiter Spalt. Wenn jemand ein totes Kind loswerden wollte, war das eine sehr gute Stelle dafür – nur hatte er nicht bedacht, dass das Hochwasser kommen und die Leiche hochspülen könnte.»
Lina schluckte. Insgeheim hatte sie gehofft, doch unrecht zu haben mit ihrer schrecklichen Vermutung. «Nun, ich fürchte, es wird häufiger vorkommen, dass sich hier jemand eines Kindes entledigen will», sagte sie leise. «Vielleicht ist es eines natürlichen Todes …»
Borghoff schüttelte heftig den Kopf. «Nein, dieses Kind ist keinesfalls eines natürlichen Todes gestorben. Dafür gibt es zu deutliche Spuren an dem kleinen Körper.»
Lina erinnerte sich an Kätts Schreie. «Kätt sagte etwas von ‹Menschenfressern›.»
«Nun, das ist …» Er zögerte. «Das ist nicht ausgeschlossen. Jedenfalls stammen diese Spuren nicht von Fischfraß oder Ähnlichem.» Er lächelte kurz. «Ich glaube, Sie sind nicht hier, weil Ihre Schwester sich anmelden muss, Fräulein Kaufmeister. Sie wollen doch alles ganz genau wissen, oder?»
Sie nickte, spürte aber, dass sie rot wurde. Das schien ihm zu gefallen.
«Dem kleinen Mädchen wurde die Kehle durchgeschnitten, es hat den Anschein, dass es ausgeblutet wurde, aber der Doktor hat Schwierigkeiten, das genau festzustellen, weil die Leiche schon einige Tage im Wasser lag. Dann hat es ein großes Loch in der Brust, ganz so wie bei den Leichen der beiden Mädchen. Und …» Er stockte. «Soll ich wirklich weitermachen?»
«Ja», sagte Lina fest.
«Am Körper fehlen ganze Fleischstücke. Sie sind entweder sauber abgetrennt worden, wohl mit einem Messer, oder tragen größere Bissspuren.»
«O mein Gott», sagte Lina leise. «Dann … dann ist es nicht ausgeschlossen, dass es sich um das Kind des toten Mädchens handelt?»
«Ich denke auch, dass es dieses Kind ist.»
«Und keine Spur von dem Mörder?»
Borghoff fuhr sich über das gesunde Auge. «Drömmer war nicht auf dem Schiff seines Vaters in Coblenz, als die dortige Polizei es untersuchte. Der alte Drömmer versicherte glaubhaft, dass sein Sohn seit dem 29. Oktober das Schiff nicht mehr betreten habe. Er habe noch bis zum Morgen des dritten Novembers auf ihn gewartet, dann aber fahren müssen, um seine Ladung rechtzeitig nach Coblenz zu bringen.»
«Drömmer könnte also immer noch hier in der Gegend sein.»
«Ja. Aber niemand hat ihn gesehen, obwohl man eine Belohnung ausgesetzt
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