Das rote Licht des Mondes: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Kaufmeister deutete irgendeine tragische Geschichte von einem ertrunkenen Kind an.»
«Tragische Geschichte», schnaubte Ebel. «Alle reden von Tragik und der armen Kätt, und alle haben Mitleid mit ihr. Aber Kätt hat schon immer mehr Zeit auf den Dönbänken als auf ihrem Rücken oder sonst wo verbracht. Sie war mal ’ne richtige Schönheit, ist mit fünfzehn mit einem Schiffer aus Coblenz hergekommen, aber der Schnaps hat sie schnell zerstört. Ich meine, sie war ’ne Hure von dem Tag an, als sie ’ne Frau wurde. Bildschön. Und dann hat sie alles versoffen. Bei dem Kind hatte sie wohl kein Geld für die Engelmacherin mehr. Das hätte ohnehin nicht lange gelebt. Es war winzig mit einem riesigen Kopf, und da war nicht alles da, wo es sein sollte.»
Sie gingen die Straße hinunter zur Altstadt. Ebel erzählte weiter. «Sie liebte das Kind abgöttisch, ließ es nie allein. Sogar zu den Freiern nahm sie die Missgeburt mit. Zu einem ist sie aufs Boot gegangen, das Kind auf dem Arm. Das Schiff lag unten an der Mühlenweide bei den Kohlemagazinen. Sie war betrunken, als sie an Bord ging, und sie war völlig besoffen, als sie es wieder verließ. Auf der Planke verlor sie das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Der Freier sprang sogar hinterher und zog sie raus, aber das Kind ertrank und wurde nie gefunden.»
«Und seitdem hat sie den Verstand verloren.»
Ebel nickte. «Sie wartet immer darauf, dass der Rhein das Kind wieder freigibt. Seit zwölf Jahren.»
Die Straße war leicht abschüssig, und plötzlich sahen sie das Hochwasser. Die ersten kleinen uralten Häuser reckten sich über die Straße, es gab keine gerade Straßenflucht mehr.
«Und Ebel? Sie kennen sich doch aus. Wohin würde Kätt gehen, wenn sie etwas Wertvolles verstecken müsste?»
«Ihr Schlafplatz ist auf dem Hof vom Haus der dicken Martha. Aber der dürfte jetzt überschwemmt sein.»
Borghoff sah ihn prüfend an. «Würde Martha sie aufnehmen?»
«In den ersten Stock?» Ebel lachte. «O nein, der ist feiner eingerichtet als die Wohnung des Bürgermeisters. Glauben Sie mir, die stinkende Kätt holt sich niemand ins Haus.» Er überlegte. «Aber hinter Marthas Haus steigt das Gelände etwas an. Dort könnte noch das eine oder andere trockene Plätzchen sein.»
Wenig später kamen sie an Marthas Bordell vorbei. Im Gegensatz zu den anderen Häusern, in die das Hochwasser zu laufen drohte, stand die Tür, mit Sandsäcken geschützt, offen. Oben im ersten Stock hörte man eine lebhafte Gesellschaft, alles war hell erleuchtet.
Schon ein paar Gassen weiter wurden sie fündig. In einem Winkel hockte eine Gestalt, die leise vor sich hin sang. Es war ein Wiegenlied, wie Borghoff schaudernd erkannte.
Er leuchtete in die Gasse, fürchtete, Kätt würde fliehen, aber sie blieb, wo sie war, unterbrach nicht einmal ihr Lied.
Borghoff näherte sich Kätt vorsichtig, Ebel dicht hinter sich. Sie wippte vor und zurück, hielt dabei die kleine Leiche fest, aber sie lag offen auf ihrem Schoß. Borghoff hielt die Laterne darüber und erschauerte. Das Kind hatte ein großes Loch in der Brust, ganz so wie die beiden toten Mädchen. Aber es fehlte weit mehr. Ganze Fleischstücke vom Bauch, den Schenkeln und den Ärmchen, einer war nur noch blanker Knochen.
Vorsichtig bückte er sich zu Kätt hinunter. «Mein Kind, mein Kind», wimmerte sie.
«Kätt, ich bin Commissar Borghoff.»
Sie sah ihn an, und ihr schmutziges, zerstörtes Gesicht wirkte in diesem Moment überhaupt nicht verrückt. «Schau, was die Teufel mit meiner Kleinen gemacht haben …», flüsterte sie.
Borghoff nickte verständnisvoll. «Sie ist tot und verstümmelt.»
Kätt wimmerte leise auf. «Jetzt habe ich sie gefunden, und sie ist tot.»
«Ja.» Vorsichtig nahm er ihr das Tuch mit der Leiche ab. Ihre Augen weiteten sich, aber er nahm die Überreste behutsam in den Arm, so als trüge er ein lebendes Kind. «Ihr wird nichts geschehen. Aber wir müssen herausfinden, wer das getan hat.»
«Aber ich lasse sie nicht allein. Nie mehr.»
Seufzend stand Borghoff auf. Schon jetzt war der Geruch unerträglich, und er konnte nicht sagen, ob es die kleine Leiche war oder die alte Hure. Ebel stapfte mit angeekeltem Blick hinter den beiden her.
Lina hatte beschlossen, dass nicht Georg, sondern sie selbst ihre Schwester Mina zur Polizei begleitete, wo sich jeder Fremde anmelden musste. Da der Vater das Familienoberhaupt und Besitzer des Hauses war, musste er eine Erklärung unterzeichnen, in der er
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