Das rote U
es ja von ihnen
verlangt. Nein, sie hatten jetzt wirklich eine mächtige Hochachtung vor
ihm. Dem Schuster die Vögel fliegen lassen – das war Sache! Auf
diesen herrlichen Gedanken wären sie nie, nie gekommen. Das war ja sogar
ein gutes Werk! Wie konnten sich die armen Zeisige ,, die Dompfaffen und Blaumeischen denn in der
düsteren Schusterbude wohlfühlen? Nein, die armen Tierchen
gehörten in den grünen Hofgarten, wofür sie der Herrgott
geschaffen hatte. Wenn es noch Kanarienvögel gewesen wären –
die mochten an Käfig und Zimmerluft gewöhnt sein. In das finstere
Loch aber, in dem der Schuster Derendorf arbeitete,
kam das ganze Jahr kein Sonnenstrahl, und es roch drinnen nur nach Pech, Leder,
Tabak und Schnaps.
Die Kinder waren überhaupt
bange vor dem alten Schuster. Keine Frau hatte der, keinen Gesellen, keinen
Lehrjungen – die paar Flickarbeiten, die ihm die Leute noch brachten,
machte er allein. Und wenn einer zu ihm kam mit Schuhen, dann sah er den gar
nicht an, knurrte nur etwas in seinen zerfressenen Schnauzbart, und wer die
Schuhe wieder abholte, dem warf er sie vor die Füße; aber kein Kind
ließ er eher hinaus, als bis er das mitgebrachte Geld aus dem
Einwickelpapier heraus Groschen für Groschen zwei- oder dreimal
gezählt hatte. Es war also wirklich keine Kleinigkeit, bei diesem
bösen Manne die armen Gefangenen aus dem schwarzen Gitterkäfig zu
befreien.
Großmutter Döll
hatte eben die Kaffeemühle hingesetzt, wohl zwanzig Lot hatte sie
gemahlen, und nun war es endlich genug. Immer öfter schob einer seinen
Teller zurück, hielt sich pustend den Bauch und bat nur noch um ein
Tässchen Kaffee. Auch Döll schob gerade den letzten Reibekuchen in
den Mund, und noch kauend stand er auf und sagte zu seiner Mutter:
„Meine Sonntagsschuhe
sind kaputt. Darf ich sie eben zum Schuster bringen?“
„Schon wieder mal?“
sagte Frau Döll, „euch könnte man eiserne Schuhe kaufen –
die kriegtet ihr auch in drei Tagen kaputt. Bring sie aber zum Bertram in die Flingerstraße , der macht grüne Sohlen drunter,
die halten länger. Und bleib nicht wieder bis in die Puppen aus. Du kannst
übrigens auch für den Vater die Feldschuhe mitnehmen, die brauchen
bloß ein paar Flicken drauf... der läuft sie ja immer an derselben
Stelle krumm, und nimm den Regenschirm mit...“
Döll sah sie an, als wenn
er sagen wollte: ‚Du redest so, wie du’s verstehst. Die Hunde
würden mir ja nachlaufen, wenn ich mit einem Schirm käme...’
– Dann ging er und packte die Schuhe in ein Einkaufsnetz, und als er in
Mütze und Regenumhang auf die Straße trat, standen die anderen
Räuber auch schon da.
„Das hast du fein
gemacht, Döll!“ lobte Mala , „denn
meine Schuhe sind zufällig mal ganz, und der Bertram aus der Flingerstraße ist der Onkel von Knöres ,
also könnte der Knöres wirklich nicht gut
zu dem Derendorf gehen, und Boddas und Silli ? Na, die würden schön verhauen,
wenn sie zu dem schwarzen Deuwel in die
Kapuzinergasse gingen...“
„Das hab’ ich mir
auch gedacht“, meinte Döll, „und ich muss wirklich sagen,
darin ist meine Mutter eine famose Frau, alles, was recht ist – eh’ die mich haut, beißt sie sich lieber den Daumen
ab... Und mein Vater, das ist überhaupt der feinste Kerl, den es gibt. Wie
es neulich rausgekommen ist, dass der Boddas und ich
an der Goldenen Brücke im Hofgarten geangelt haben, und wie nachher der
Polizist gelaufen kam, und der konnte kaum durch – so viele Leute standen
schon um uns rum... und da hatten wir nur einen Rollmops an der Angel, und wir
haben gesagt, wir wollten nur unseren Rollmops wässern, da hat mein Vater
gelacht, dass die Fensterscheiben wackelten, und fünf Groschen hat er mir
noch dazu geschenkt...“
„Das hast du ja schon
hundertmal erzählt!“ sagte Silli ,
„und für die fünf Groschen hättest du mir lieber eine
Tafel Schokolade kaufen sollen – ich hatte doch gerade zwei Wochen vorher
Namenstag gehabt!“
„Und eine neue Batterie?
Wo hätte ich die hergekriegt, he? Eine Batterie ist nötiger als
Schokolade, das kannst du dir endlich mal merken!“
Das sah Silli auch ein; wenigstens sagte sie: „Hin ist hin, darum zanken wir uns nicht
mehr! Und jetzt los zum Derendorf !“
„Wir gehen natürlich
alle mit rein!“ rief Boddas .
„Du bist wohl ganz
verrückt?“ sagte Silli , „wir
können doch die Vögel jetzt noch nicht fliegen lassen! Zuerst muss
Döll einmal ausspionieren, denn wenn wir alle zusammen kommen,
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