Das rote Zimmer
an ihren Haken, die winzige Spinnwebe an der Glühbirne, die Sonne, die von den Kupferpfannen reflektiert wurde und geometrische Muster an die Wand warf, meine Hände, die ich friedlich im Schoß gefaltet hatte. Die einzigen Geräusche, die ich noch wahrnahm, waren mein eigenes Atmen und das leise Ticken meiner Uhr. Es war zweiundzwanzig nach zehn. Bryony saß völlig reglos da.
Schließlich drehte ich mich um. Gabriel stand im Türrahmen.
Mit einem zweiten leisen Klicken zog er die Tür hinter sich zu und starrte uns an. Erst Bryony, dann mich, dann wieder sie. Niemand sagte ein Wort. Die Sonne schien durchs Fenster herein.
Ich wollte etwas sagen, ließ es dann aber bleiben. Was sollte das bringen? Ich hatte nichts mehr zu sagen.
Stattdessen legte ich einen Finger an meine Wange und zeichnete meine Narbe nach, vom Haaransatz bis hinunter zum Kinn. Irgendwie tröstete mich das. Es rief mir in Erinnerung, wer ich war.
»Ich habe meine Tasche vergessen«, erklärte Gabriel.
»Ich gehe jetzt wohl besser«, bemerkte ich, rührte mich aber nicht von der Stelle.
»Sie war gerade in der Gegend«, meldete sich Bryony mit ihrer neuen, matten Stimme zu Wort. Gabriel nickte.
»Ich muss mich wieder hinlegen«, murmelte sie und stand unsicher auf. »Ich bin krank.«
»Ich wollte bloß mal vorbeischauen«, sagte ich. »Wir haben uns ein bisschen unterhalten.«
»Worüber?« Er sah seine Frau an.
»Sie hat über das gesprochen, was passiert ist«, antwortete Bryony. »Sie hat ein Mädchen erwähnt. Wie war noch mal ihr Name?«
»Daisy«, sagte ich. »Daisy Gill.«
»Sie hat sich umgebracht. Sie war eine Freundin von Lianne. Und sie hat im Sugarhouse gearbeitet.«
»Was soll denn der Blödsinn?«, entgegnete Gabriel müde.
»Es hat doch geheißen, dass alles vorbei sei. Was sagt denn die Polizei dazu?«
»Es ist bloß sie«, antwortete Bryony fast lautlos. »Sie ist allein.«
Er kam auf mich zu. »Was wollen Sie?«, fuhr er mich an und streckte die Hand aus. Erst berührte er mich nur leicht an der Schulter, aber dann packte er mich plötzlich am TShirt und zog mich hoch.
»Gabe!«, rief Bryony erschrocken.
Ich blickte in sein erschöpftes Gesicht, seine blutunterlaufenen Augen. Hinter ihm sah ich Bryonys bleiches Gesicht, hinter ihr eine geschlossene Tür. Ich saß in der Falle.
»Wollen Sie die ganze Welt umbringen?«, fragte ich ihn.
Seine Hände fühlten sich warm an, als er sie mir um den Hals legte. Ich musste an das Gesicht meiner Mutter denken, deren Foto ich immer dabeihatte, als könnte sie mich beschützen. Ich dachte daran, wie sie lächelnd im Gras saß. Gabriels Gesicht war inzwischen ganz nahe vor meinem, und ich hörte ihn flüstern: »Wir wollten das nicht.« Sein Gesicht war zu einer furchtbaren Grimasse verzogen, seine Augen halb geschlossen, als könnte er den Anblick dessen, was er tat, nicht ertragen. Ich schlug nach ihm, aber sein Körper war hart und unnachgiebig wie eine Mauer. Also ließ ich locker, und er begann zu drücken.
Die Welt bestand nur noch aus Rot und Schwarz und Schmerz und einer weinenden Stimme im Hintergrund.
Dann, nachdem ich meinen Körper so schlaff gemacht hatte, wie ich nur konnte, als würde ich gleich bewusstlos, riss ich die rechte Hand mit aller Kraft hoch, spreizte meine Finger zu einem V und stach damit nach seinen Augen. Ich spürte etwas Weiches, Feuchtes und hörte ihn aufschreien. Seine Finger ließen für einen Moment locker, dann schlossen sie sich wieder um meinen Hals. Ich fuhr mit meinen Fingernägeln über seine Wange, spürte, wie seine Haut zu bluten begann, hakte meine Finger dann in seinen schreienden Mund und riss sie zurück, so fest ich konnte. Sein Brüllen dröhnte in meinen Ohren, der Schmerz pulsierte durch meinen Kopf, und alles, was ich sehen konnte, war rot. Blut, nichts als Blut. Ich stieß ihm die Finger immer wieder ins Gesicht, traf auf etwas Weiches, spürte sein klebriges Blut, seinen Speichel, das Nass seiner Augen.
»Bryony. Gib ihr den Rest, verdammt noch mal! Bryony!«
Etwas Schwarzes kam durch den roten Nebel auf mich zu.
Ich schloss die Augen, hörte wenige Zentimeter von mir entfernt ein lautes Krachen, das wie ein Schuss klang. Seine Finger lösten sich von meinem Hals. Ich landete auf dem Boden, spürte das raue Holz der Dielen an meiner Wange.
Ich hörte erneut ein Geräusch und sah schemenhaft ein schwarzes Fotostativ ein weiteres Mal durch die Luft sausen. Dann landete Gabriel auf mir. Sein Körper deckte meinen
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