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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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ihren Freunden gesprochen. Sie hatte eine unglückliche Kindheit, so viel weiß ich. Eltern, die sie nicht haben wollten, Pflegeeltern, die sie im Stich ließen.
    Oder ihr noch Schlimmeres antaten. Sie brauchte dringend Freunde. Sie brauchte Erwachsene, denen sie vertrauen konnte und die die Welt für sie ein bisschen sicherer machen würden, Leute wie Sie oder ich können sich wahrscheinlich nur schwer vorstellen, wie ihr Leben gewesen sein muss. Sie war oft wütend und immer einsam, immer voller Angst.«
    Mit einem schabenden Geräusch zog Bryony ihren Stuhl wieder heran und setzte sich. Sie legte das Kinn in die Hände, und zum ersten Mal an diesem Tag sahen mich ihre karamellfarbenen Augen direkt an. Die Farbe bildete einen starken Kontrast zu ihrer bleichen Haut.
    »Daisy hatte eine Freundin. Lianne. Ich weiß nicht, wie Lianne in Wirklichkeit geheißen hat oder wo sie hergekommen ist, aber ich weiß, dass auch sie eine unglückliche Kindheit hinter sich hatte. Dass sie oft sehr verzweifelt gewesen sein muss. Aber wenigstens hatten Lianne und Daisy einander. Vielleicht war das ihre Rettungsleine. Sie planten, miteinander zu leben und ein Restaurant aufzumachen, wenn sie beide alt genug wären.

    Sie wollten Pasta kochen, Makkaroni mit Käse und solche Sachen. Das habe ich von ihren Freunden erfahren.«
    »Warum erzählen Sie mir das?«
    »Daisy hat sich umgebracht. Sie hat sich in dem Heim, das ihr Zuhause war, in ihrem tristen, kleinen Zimmer aufgehängt. Ein paar Monate später wurde dann Lianne unten am Kanal ermordet, kurz darauf Philippa Burton –
    beide von derselben Person. Philippa kannte Lianne – wir wissen nicht, woher oder warum sie sich kannten. Lianne kannte Daisy. Und wie der Zufall so spielt, hat Daisy im Sugarhouse gearbeitet. Es hängt also alles miteinander zusammen.«
    »Es hängt nicht wirklich zusammen«, antwortete Bryony.
    »Das hier ist nun mal ein kleiner Stadtteil. Außerdem war ich ja auch ein Opfer.«
    »Michael Doll.« Einen kurzen Moment blitzten vor meinem geistigen Auge die letzten Bilder von ihm auf.
    Michael Doll noch am Leben. Michael Doll tot. »Er ist bloß zufällig in die Geschichte hineingestolpert. Mehr war es nicht. Er saß einfach nur dort unten am Kanal, wo ihn niemand störte, und fing seine armen Fische, um sie hinterher wieder ins Wasser zu werfen.«
    »Er hat diese Frauen umgebracht.« Sie stützte die Hände vor sich auf den Tisch und setzte sich aufrechter hin.
    »Er war schrecklich zugerichtet«, entgegnete ich. »Ich habe seine Leiche gesehen, müssen Sie wissen.«
    »Ich wollte immer schon fotografieren«, sagte Bryony mit leiser Stimme. »Seit ich mit neun Jahren von meinem Onkel eine billige kleine Sofortbildkamera zum Geburtstag bekommen hatte. Es ist seltsam, wie man das plötzlich weiß – auf jeden Fall hatte ich immer das Gefühl, die Welt klarer zu sehen, wenn ich sie durch eine Kamera betrachtete, als würde sie dann mehr Sinn ergeben. Durch eine Kamera können sogar hässliche Dinge schön aussehen. Sinnlose Dinge ergeben plötzlich einen Sinn.«
    Sie blickte zum Foto des kleinen Zigeunernmädchens auf.
    »Und ich bin gut darin. Es geht ja nicht nur darum, das eigentliche Foto zu machen, man muss erst mal wissen, wonach man sucht. Oft passiert wochenlang gar nichts, und dann sehe ich eines Tages plötzlich etwas. Ein Gesicht. Irgendwas Besonderes. Die Art, wie das Licht fällt. Das ist dann, als würde es in meinem Kopf Klick machen. Irgendwie gibt mir das Fotografieren außerdem das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Eine Art Zeitzeugin zu sein.« Sie fuhr sich mit der Zunge über die bleichen Lippen. »Für die Gesellschaft, aber auch für mich selbst.
    Wie Gabe mit seinem Theater. Er ist auch sehr gut in seinem Job.«
    »Ich weiß«, antwortete ich. »Ich habe es gesehen.« In der Küche war es sehr still, als hätte die Welt draußen aufgehört zu existieren.
    »Wir sind auch in die Geschichte hineingezogen worden«, erklärte sie mit einem langen Seufzer. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr, oder? Es ist vorbei. Die Polizei hat gesagt, dass es vorbei ist und dass mir nichts mehr passieren kann. Sie haben das auch gesagt.
    Irgendwann wird es mir wieder besser gehen. Aber ich bin noch so müde. Ich bin so müde, dass ich hundert Jahre lang schlafen könnte.«
    Hinter uns klickte es leise, und im Raum wurde es noch eine Spur stiller. Alles schien plötzlich klar und deutlich hervorzutreten: die Topfpflanze auf dem Fensterbrett, die Tassen

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