Das rote Zimmer
nötig an die Haustür klopfte und drinnen Schritte hörte.
»Ja?«
Bryony war noch im Bademantel. Sie hielt ihn oben mit einer Hand zu, genau, wie ich es immer tat. Benommen starrte sie mich an, als hätte ich sie aus dem Bett geholt.
Sie schluckte heftig. »Bryony«, sagte ich in herzlichem Ton, »ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ich war gerade auf dem Weg zu einem Patienten, und wie ich so dahinfahre, sehe ich plötzlich das Schild mit dem Namen Ihrer Straße vor mir, und nachdem ich noch viel zu früh dran bin, habe ich mir gedacht, ich schaue einfach auf gut Glück bei Ihnen vorbei.«
»Kit?«, murmelte sie.
»Und um ehrlich zu sein, könnte ich vor meinem Termin noch ein Klo und eine Tasse Kaffee gebrauchen. Ich habe Sie doch hoffentlich nicht geweckt?«
»Nein, nein, entschuldigen Sie.« Sie bemühte sich sichtlich um Fassung. »Ich habe nur nicht damit gerechnet
– aber kommen Sie doch herein. Ich setze gleich Wasser auf. Die Toilette ist hier den Gang entlang.« Sie deutete mit der Hand in die entsprechende Richtung. Ich registrierte ihre abgekauten Nägel. Wie die von Lianne.
»Danke.«
Als ich zurückkam, gab sie gerade Kaffeebohnen in eine Mühle. »Sie sehen müde aus«, sagte ich. Sie sah mehr als müde aus. Sie schien stark abgenommen zu haben. Ihre Schlüsselbeine traten scharf hervor. Ihr Gesicht wirkte aufgeschwemmt, ihr schönes Haar ungepflegt. An der linken Wange hatte sie einen leichten Ausschlag. Als sie nach dem Wasserkessel griff, um den Kaffee aufzugießen, sah ich, dass sich rund um ihr Handgelenk ein rotes Ekzem zog. »Wie geht es Ihnen?«, fragte ich.
»Nicht so besonders.«
»Ja, das hat Gabriel schon gesagt. Hat er Ihnen erzählt, dass ich kürzlich im Sugarhouse war?«
»Nein.«
»Hat Sie die Angst krank gemacht?«, fragte ich.
»Vielleicht«, antwortete sie langsam. Sie füllte zwei Tassen mit Kaffee und stellte sie auf den Tisch. »Möchten Sie etwas dazu essen – oder müssen Sie schon zu Ihrem Termin?«
»Ich habe noch jede Menge Zeit«, gab ich fröhlich zurück. »Aber danke, ich möchte nichts essen. Mit dem Kaffee bin ich wunschlos glücklich.« Obwohl er noch sehr heiß war, nahm ich einen Schluck. »Waren Sie schon beim Arzt?«
»Weshalb?«
»Nun ja, wegen Ihres Zustands.«
»Das wird schon wieder. Jetzt ist ja alles wieder in Ordnung, nicht?«
»Wirklich?«
»Ich meine, es ist vorbei. Ich brauche mir keine Sorgen mehr zu machen.« Ich sah sie an. Sie fingerte nervös an ihrer Tasse herum. »Zumindest haben die von der Polizei das gesagt.«
»Ich weiß. Polizisten haben es gern, wenn ein Fall abgeschlossen ist. Aufgeklärt und abgeschlossen. Das wird im Pub groß gefeiert. Und dann geht’s weiter zum nächsten Fall.«
»Da kenne ich mich nicht so aus.«
»Aber für Sie und mich ist es anders, stimmt’s?«
»Vielleicht sollte ich mich jetzt besser anziehen.« Sie stand auf, hielt wieder ihren Bademantel zu. »Es ist schon spät. Ich habe heute einiges zu erledigen.«
»Sie können nicht vergessen, was Sie durchgemacht haben. Die Erinnerungen stecken in Ihrem Kopf.« Ihre Lider wirkten schwer, als kostete es sie größte Mühe, die Augen offen zu halten. »Und was mich angeht, kann ich einfach nicht aufhören, mir bestimmte Fragen zu stellen.
Warum hat ein Opfer den Namen eines weiteren Opfers aufgeschrieben, bevor sie starb? Wie konnte ein Mörder eine Frau am helllichten Tag, noch dazu vor den Augen ihres Kindes, aus einem öffentlichen Park entführen?
Warum hat ein verlässlicher Zeuge Michael Doll für einen unbeteiligten Zuschauer gehalten?«
»Da kann ich Ihnen auch nicht helfen …« Bryonys Lippen wirkten blutleer. »Ich weiß es nicht.«
»Warum hat sich eine Frau von einem Spielplatz entführen lassen, ohne zu schreien oder um Hilfe zu rufen, und warum hat das Kind kein Theater gemacht, als seine Mutter verschwand?«
Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Die Polizei hat das alles nicht besonders interessiert. Schon gar nicht mehr, seit Michael Doll tot ist. Ich habe ein Problem damit, die Dinge schnell loszulassen. Das sagen alle, die mich kennen. Wie auch immer, in diesem Fall habe ich lauter Bruchstücke einer Geschichte und versuche schon die ganze Zeit, sie zusammenzusetzen. Stört es Sie, wenn ich Ihnen davon erzähle?« Sie reagierte nicht. »Da war ein Mädchen namens Daisy. Daisy Gill. Vierzehn Jahre alt, auch wenn sie vielleicht älter ausgesehen hat. Ich bin ihr nie persönlich begegnet. Ich habe nur ihr Foto gesehen und mit
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