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Das rote Zimmer

Titel: Das rote Zimmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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zu, sein Blut lief mir übers Gesicht. Ich hörte ihn keuchen und Bryony schreien. Nachdem ich ihn von mir runtergeschoben hatte, stand ich mühsam auf, obwohl die Welt um mich herum noch immer laut zu brüllen schien und der Boden unter meinen Füßen gefährlich schwankte.
    Gabriel lag in seinem eigenen Blut. Er hatte eine klaffende Wunde am Kopf, sein Gesicht war aufgerissen und ein Auge völlig rot. Seine Brust aber hob und senkte sich noch.
    Ich nahm Bryony das Stativ aus der Hand und führte sie, halb auf sie gestützt, zum Tisch, wo ich sie mit sanfter Gewalt auf einen Stuhl drückte.
    »Ich bin kein schlechter Mensch«, schluchzte sie. »Ich bin kein schlechter Mensch. Ich bin gut. Gut. Ein guter Mensch.
    Das war alles bloß ein Irrtum. Ein schrecklicher Irrtum.«

    46. KAPITEL
    Der Besuchsraum im Untersuchungsgefängnis Salton Hill wirkte wie eine schmuddelige Cafeteria in einer sehr schlechten Gegend. Auf einer Seite befand sich sogar eine Durchreiche, an der eine Frau, die selbst wie eine Gefängnisinsassin aussah, Papptassen mit künstlich aussehendem Orangensaft oder Tee aus einem großen Metallbehälter füllte. Dazu gab es auf Plastiktellern Kekse mit Marmeladeklecksen in der Mitte. Kinder liefen schreiend heraus, Stuhlbeine kratzten über den Boden, und über allem hing Zigarettenrauch und der Geruch der Armut.
    In Männergefängnissen sind alle möglichen Sorten von Verbrechern versammelt: Raubmörder, Psychopathen, Vergewaltiger, professionelle Betrüger, Drogendealer. In einem Frauengefängnis hingegen machen die meisten Insassinnen einen traurigen, hoffnungslosen, leicht verrückten Eindruck. Es gibt so gut wie keine Bankräuberinnen, es gibt keine Vergewaltigerinnen, und es gibt auch keine weiblichen Berufsbösewichte, die ein Jahr im Knast als eine Art Urlaub betrachten. Es handelt sich vielmehr um verzweifelte, verwirrte Frauen, die Ladendiebstähle begangen haben, weil sie nicht genug Geld hatten, oder ihr Baby mit einem Kissen erstickt haben, weil irgendwelche Stimmen ihnen den Befehl dazu gaben. Sie saßen um die Tische, eine Zigarette zwischen den Lippen, denn ohne Zigarette ging es nicht, und sprachen mit ihren scheuen, bestürzt dreinblickenden Müttern und Vätern, mit Freunden, mit ihren nervös herumzappelnden Kindern.
    Die Frau, die am Eingang meinen Besucherschein kontrollierte, erklärte mir, dass Bryony bereits unterwegs sei, deswegen holte ich uns zwei Tassen Tee und eine Minipackung Kekse, außerdem zwei Päckchen Zucker und einen dieser kleinen Plastikspatel – als ob ein Plastiklöffel schon zu viel Luxus gewesen wäre. Nichts von dem, was ich schließlich auf ein Tablett aus fester Pappe lud, konnte als Waffe oder – nachdem es sich hier um ein Frauengefängnis handelte – zur Selbstverstümmelung verwendet werden.
    Ich setzte mich an den mir zugewiesenen Tisch, Nummer vierundzwanzig, und nahm einen Schluck von meinem Tee, der so heiß war, dass ich mir die Oberlippe verbrannte. Noch ehe ich mich zurücklehnen und ein wenig sammeln konnte, erschien sie auch schon. Sie hatte natürlich ihre eigenen Sachen an, einen braunen Pullover mit rundem Ausschnitt, eine marineblaue Hose, dazu Tennisschuhe ohne Socken. Ich sah, dass sie noch immer ihr silbernes Fußkettchen trug. Ihren Ehering hingegen hatte man ihr abgenommen. An der entsprechenden Stelle war ihre Haut ein wenig heller. Ihr ungewöhnliches Haar war streng nach hinten gekämmt und im Nacken zusammengebunden, fiel aber immer noch auf. Sie war nicht geschminkt. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sorgfältig sie sich sonst immer hergerichtet hatte, auch an dem Morgen nach dem Überfall. Rund um ihre Augen entdeckte ich neue Falten, und sie sah extrem blass aus.
    Wortlos nahm sie mir gegenüber Platz.
    »Ich habe schon mal Tee für Sie geholt«, sagte ich und schob eine Tasse über den Tisch.
    »Danke.«
    Sie lehnte sich vor und griff nach den zwei Beuteln Zucker, riss sie nacheinander auf und sah fasziniert zu, wie er in die Tasse rieselte. Dann rührte sie den Tee mit hektischen Bewegungen um. Bei der Gelegenheit sah ich die Verbände an ihren Handgelenken. »Ich habe davon gehört«, bemerkte ich.
    Sie schaute auf ihre Hände. »Ich habe es falsch gemacht«, sagte sie. »Jemand hat es mir erklärt. Die Leute schneiden alle quer, weil sie es im Fernsehen so gesehen haben. Aber da machen die Adern zu schnell wieder dicht.
    Ich hätte längs schneiden sollen. Sie sind gekommen, um sich bei mir zu bedanken, nehme ich

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