Das sag ich dir
hast Lisa getroffen. Braucht sie eine Behandlung?«
»Wegen was?«
Valerie sah wie immer aus, als würde sie kurz vor einem Wutanfall stehen. »Wegen des Diebstahls meines Bildes«, sagte sie. »Ich kann das nicht einschätzen. Du bist der Arzt. Aber vergiss das erst einmal, denn ich habe noch eine Frage.« Sie zögerte. Ich schaute sie weiter an, doch sie wich meinem Blick aus. Dann sagte sie: »Vor einigen Jahren, als Henry und ich zwar schon Probleme miteinander hatten, aber immer noch irgendwie zusammen waren, hat er zu mir gesagt: >Wir werden später gemeinsam alt. Wir kaufen uns ein Haus am Meer, und dort werden wir reden und essen und lesen und malen. < Darauf habe ich mich immer gefreut. Es war das Einzige, was mir einfiel, wenn ich an die Zukunft gedacht habe - unsere gemeinsame Zukunft.« »Verstehe.«
»Wir sind nicht mehr jung«, sagte sie. »Und jetzt hat er diese andere Frau.«
»Meine Schwester Miriam.«
»Ja, genau. Trotz allem bestimmt eine charmante Frau«, sagte sie. »Glaubst du wirklich, dass die Sache ernst ist? Du kennst Henry, denn du bist sein bester Freund. Ich wüsste nicht, wen ich sonst fragen sollte.«
»Du möchtest wissen, ob Henry zu dir zurückkehren wird?«, fragte ich. Sie nickte so leise, als könnte sie es nicht ertragen, mir ihre Hoffnung zu verraten. Ich fuhr fort: »Er ist jetzt mit Miriam zusammen.
Schon seit über einem Jahr. Ich glaube, sie lieben einander.« Ich hätte fast gesagt: »Eine Rückkehr ist nie möglich«, verbiss mir die Worte aber, weil sie meinem Gefühl nach nicht ganz stimmten.
»Mir war klar, dass ich dich besser nicht gefragt hätte«, sagte sie. »Ach - übrigens: Ohne Henry wärst du in London nur ein Niemand. Du könntest etwas mehr Dankbarkeit zeigen.« Sie wandte sich von mir ab und schritt davon.
Der Tisch war dicht besetzt, die vielen Stühle hatten kaum Platz. Ich freute mich, Henrys Sohn, Sam, wiederzusehen, der inzwischen mit der äußerst spärlich bekleideten Tochter eines Rockstars zusammen war, dessen Poster in den Siebzigern in meinem Schlafzimmer gehangen hatte. Sam notierte sich Rafis Handynummer. Er wollte gemeinsam mit der Frau, die offenbar sang, ein paar selbstgeschriebene Songs proben, und sie brauchten noch einen Drummer. Sam hatte schon einmal mit Rafi gejammt und schätzte ihn. Rafi würde sich nahtlos in diese Welt einfügen.
Ich fand mich zwischen einigen Frauen wieder, die über ihre Träume zu reden begannen, nachdem sie von meinem Beruf erfahren hatten. Leider fühle ich mich in solchen Fällen immer wie ein Arzt im Urlaub, den Fremde hartnäckig mit ihren Wehwehchen belästigen.
Ich klinkte mich bald aus dem Gespräch aus und merkte, wie gelangweilt und unzufrieden ich war. Ich wollte weder allein zu Hause sein, noch ertrug ich den Gedanken an das Chaos bei Miriam. Ich überlegte, die Göttin zu besuchen, war aber nicht in der Stimmung dazu. Mir wurde bewusst, wie einsam ich war, wie weit entfernt von anderen Menschen. Und ich dachte, dass ich gern noch einmal verliebt wäre, ein einziges Mal, vielleicht das letzte Mal in meinem Leben. Obwohl ich nicht mehr der Jüngste war, wollte ich noch einmal die Liebe erleben, nicht zuletzt, um sie mit früheren Erfahrungen zu vergleichen. Noch war ich nicht dazu bereit. Doch es würde nicht mehr lange dauern.
SECHSUNDVIERZIG
Damit Rafi sich eingewöhnte, wurde er an den ersten drei Tagen an seiner neuen Schule, die Mick Jagger empfohlen hatte, von seiner Mutter begleitet. Am vierten Tag brachte ich ihn hin. Danach ging er allein hin. Er war jetzt zwölf und löste sich von uns.
Wir stiegen am Ende meiner Straße in den Bus. Es war halb acht Uhr, und so früh war ich schon lange nicht mehr draußen gewesen. Rafi war genervt. »Dad, Dad, nimm die verdammte Kapuze und die Sonnenbrille ab! Sag ja kein Wort!«, zischte er.
Der Junge kam mir plötzlich größer vor, er reichte mir jetzt bis ans Kinn. Seine Krawatte war straff gebunden - ich hatte ihm den Windsor-Knoten beigebracht, wie mein Vater mir -, seine schwarzen Schuhe waren zu groß, und genau wie alle anderen trug er Schlüssel und Handy an einem bunten Band um den Hals.
Ältere Jungen, bereits gelangweilt und mit zerknitterten, aus der Hose gerutschten Hemden, hingen an der Bushaltestelle herum, rauchten und hörten mit Kopfhörern Musik. Nicht mehr lange, dann wäre mein Sohn wie sie, aber jetzt hatte er noch Angst, zeigte mir im Bus sein Sommerprojekt, Fotos von Blättern und Steinen, Zeichnungen von
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