Das Sakrament
Er ist weggelaufen. Vielleicht nennt er sich großsprecherisch Orlandu di Birgu.«
»Ein so wichtiger Junge muß sich ja einen großartigen Namen geben. Ich kenne ihn nicht, aber ich lasse das Wort umgehen. Wenn er bei seiner Ankunft ein Junge war, ist er nun aber keiner mehr. Kommt und seht Euch selbst um! Meine Provenzalen und ein Trupp Eurer Spanier rücken in die vorderste Linie vor.«
Le Mas packte eine Hellebarde, deren verschiedene heimtückische Kanten frisch geschliffen waren. Bors band sein großes deutsches Zweihänderschwert los.
»Gebt Mattias die Halbpike«, sagte Bors, »oder eine dieser hübschen Türkenäxte.«
»An der Front wird es Waffen in Mengen geben«, erwiderte Le Mas.
Sie begleiteten Le Mas, der seine Truppe zur Tat rief. Manche nutzten noch rasch die Gelegenheit, ihre Blasen zu erleichtern oder den Darm zu entleeren, schulterten dann die Stangenwaffen und überprüften die Rüstungen. Tannhäuser gesellte sich zum Oberst an der Spitze der Kolonne. Trotz des Lärms um sie herum unterhielt sich Le Mas mit ihm, als spazierten sie über einen stillen Waldpfad.
»Wer ist jetzt am Steuer Eurer Schänke, des ›Orakels‹? Der Jude?«
»Das ›Orakel‹ ist in einem schlechteren Zustand als diese Festung. Es ist nur noch ein Aschenhaufen übrig.«
»Wie das?«
»Die Inquisition.«
»Dann ist mein Gewissen noch schlechter. Ich bin froh, daß ich die Gelegenheit habe, Euch um Verzeihung zu bitten.«
»Wofür?«
»Als ich aus Messina auf die Insel kam, habe ich Fra Jean – La Valette – Euren Ruhm gesungen. Ich habe ihm erklärt, wie kühn Ihr seiet, daß Ihr mir den Gefallen getan hättet, meine Tercios für mich zu rekrutieren. Das alles interessierte ihn sehr. Bei all seiner Frömmigkeit ist er auch ein sehr geschickter und skrupelloser Planer. Kaum hatte ich mich’s versehen, wart Ihr auch schon in seiner Kammer und habt Mustafas Griechen aus dem Nichts hervorgezaubert. Also bin ich schuld daran, daß Ihr hier seid.«
»Da hat es eine größere Schurkenbande gebraucht als Euch und La Valette.«
»Waren unter diesen Schurken auch Frauen?«
Tannhäuser schaute ihn an, und Le Mas lachte. »Er hat mich gefragt, wißt Ihr, Fra Jean. Ist er ein Frauenheld? hat er wissen wollen. Und ich habe geantwortet: Nun –« Er blickte ihn an. »Nun, ich frage Euch, Mattias, was hätte ich denn Eurer Meinung nach sagen sollen?«
Le Mas lachte wieder, und Tannhäuser stimmte mit ein. Wenn überhaupt etwas zu verzeihen war, dann war es vergeben und vergessen. Sie marschierten weiter, bis zu ihrer Rechten die zerborstenen Reste der Kurtine aufragten. Dort schwoll der Lärm zu einem teuflischen Requiem an: Anrufungen Gottes in einem Dutzend verschiedener Sprachen, die Schwüre und Flüche, das Klirren und Knirschen von tausend Schwertklingen, das Knistern von griechischem Feuer und das Dröhnen von Gewehren, alles vermischte sich und stieg zum Himmel. Überall entlang der Front loderten Flammen auf, die heller als der Tag und heiß genug zum Schmelzen von Messing waren. An der Südspitze des sternförmigen westlichen Verteidigungswalles war ein fünfzig Schritt langesStück der Verbindungsmauer eingestürzt. Wie wilde Tiere kämpfte eine Horde von Männern um den Besitz dieses Steinhaufens.
Trotz seiner ernsthaften Versuche, ein friedliches Leben zu führen, war Tannhäuser wieder einmal tief im Kampf, im untersten Kreis der Hölle angekommen.
M ONTAG , 11. J UNI 1565
Im Laufgraben – Im Burghof – Auf dem Damm
Wie ein winziges Lebewesen in einem fremden Urwald kroch Orlandu durch das Dickicht der Halbpiken und Hellebarden, die dicht an dicht das Terrain zwischen der Front und der zweiten Verteidigungslinie ausfüllten. Während er sich seinen Weg durch den mit Felsbrocken übersäten Laufgraben bahnte, waren seine Gedanken nur mit einer einzigen Sache beschäftigt: dem nächsten Fleckchen Erde, das er erreichen mußte. Er hatte keine Augen mehr für den Kampf um ihn. Seine Gedärme waren in Aufruhr, sein Körper war mit blauen Flecken übersät. Wenn er über die Verletzten und Toten am Boden stieg, waren sie für ihn nur noch Hindernisse, keine Menschen mehr. Er verspürte den Schrecken, so wie der Fisch das Meer spürt, und war völlig darin eingetaucht.
Immer wieder stieß ihn jemand in den Rücken, aber inzwischen war Orlandu gegen derlei Attacken so abgestumpft, daß ihn erst eine Hand beim Nacken packen und von den Ellbogen auf die Füße zerren mußte. Ein breites, bärtiges Gesicht
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