Das Sakrament
erhalten, und wir haben jeden Grund zum Lächeln.«
Instinktiv schaute sie ihm über die Schulter. Jenseits der Schwelle zum Haus stand jemand. Mattias drehte sich gleichfalls um. Carlas Tränen begannen zu fließen, voller Freude und Trauer.
»Orlandu«, rief er.
Orlandu erschien in der Tür. Er kam mit steifen Schritten aufCarla zu, mit gestrafften Schultern und hoch erhobenem Kopf, als hätte man ihn angewiesen, sein bestes Benehmen an den Tag zu legen. Seine Haut war rosig, und seine Augen waren offen und ehrlich. Carla wußte, daß sie nie im Leben einen schöneren Anblick erleben würde. Er blieb vor ihr stehen und verneigte sich ernst. Wieder stiegen Tränen in ihr auf.
»Lächle, mein Junge«, sagte Mattias. »Und benimm dich.«
Er lächelte auch.
»Denn das ist deine Mutter.«
Carla warf die Arme um Orlandu und drückte ihn fest an sich.
S ONNTAG , 9. S EPTEMBER 1565
In Hal Saflieni
Die Grabstätten von Hal Saflieni waren aus groben Felsen geschlagen worden, ehe man Eisen oder Bronze gekannt hatte. Vielleicht, man konnte es nicht wissen, sogar bevor Prometheus den Göttern das Feuer gestohlen hatte. Gegraben wurden sie mit Knochen und Steinkeilen, damals, als die Welt der Menschen noch jung war, als eine Frau die Schöpferin des Universums gewesen war, als die Steinmetze der Urzeit allein eine Göttin anbeteten. Hier in Hal Saflieni, in den Kammern, Nischen und Gewölben, waren Tausende von Skeletten zur letzten Ruhe gebettet worden.
Für Carla war Hal Saflieni stets eine Zufluchtsstätte gewesen, ein geheimnisvoller, tiefer Trost. Obwohl diese Tempelanlage verbotenes Territorium war, hatte sie sich als Mädchen stets hierhergezogen gefühlt. Wenn ihre Seele betrübt war, kniete sie vor der Großen Steinmutter und spürte die Weisheit alter Zeiten. Die Priester sagten, es sei ein heidnischer Ort, den man meiden solle. Die junge Carla jedoch hatte nichts Sündiges gespürt. Sie hattezur Seligen Jungfrau gebetet, hier in der Stadt der Toten, und die Jungfrau und die Steinmutter hatten ihr Frieden geschenkt. Viele Jahre lang war sie nicht an dieser Stätte gewesen. An diesem Tag, als sie Trost und Frieden bitter nötig hatte, war sie entschlossen, ihre Freundin hierhin mitzunehmen und sie der Ewigkeit zu empfehlen.
In Birgu wurden in der Verkündigungskirche in der Dunkelheit vor der Morgendämmerung Vespern und Matineen für die Toten abgehalten. Die Kämpfe waren zwar vorüber, aber am Vortag waren noch einmal viele Menschen gestorben. Es wurden Psalmen gesungen. Man las Nokturnen aus dem Buch Hiob. O Herr, schenke ihnen ewige Ruhe, und das ewige Licht leuchte ihnen. Unter denen, um die hier getrauert wurde, waren auch Amparo, Nicodemus und Bors. Befreie mich, Herr, vom ewigen Tod an jenem furchtbaren Tag, wenn erschüttert werden Himmel und Erde, wenn du dann kommst, die Welt zu richten im Feuer. Es folgten die Laudes, und das Miserere wurde gesungen und das Klagelied des Ezechiel, das Lied von Ezechias und die Antiphon des Johannes. Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben. Dann wurden alle Seelen, die wohl für diese Welt gestorben waren, nicht aber für die nächste, von all ihren Sünden freigesprochen, und die Trauernden traten in das frühe Morgengrauen hinaus.
Auf Carlas Bitte hatten Tannhäuser und Orlandu die Leichname von Bors und Amparo auf einen Karren geladen. Die Leiche von Nicodemus hatten sie nicht finden können. Als nun eine bleiche Sonne über den Bergrücken des Monte Salvatore aufstieg, zogen sie den Karren zur Totenstadt von Hal Saflieni hinauf und betteten sie dort neben ihren Gefährten aus der Urzeit zur letzten Ruhe. Wiederum auf Carlas Bitte war auch Lazaro mitgekommen. Obwohl er angesichts dieser heidnischen Landschaft zusammenzuckte, konnte er Carla keine Bitte abschlagen und weihte die Nischen, die sie ausgewählt hatte. Lazaro besprengte die Leichnamemit Weihwasser, und es wurden das Kyrie und das Benedictus gesprochen. Dann verließ Lazaro die drei wieder, sprach noch das De profundis , während sie ihn schon fortgehen sahen. Allein mit ihren toten Freunden, blieben die drei in den Katakomben zurück, in einer Stille, die so schmerzhaft war, daß man sie kaum aushalten konnte.
Vom Karren holte Tannhäuser die Gambe. Und Carla spielte.
Sie spielte, bis sie meinte, das Herz müßte ihr zerbrechen. Als sie Tannhäuser anschaute, schien ihr, als sei
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