Das Sakriversum. Der Roman einer Kathedrale.
dieser Nacht blieb Elisabeth bei ihm. In den folgenden Monaten arbeitete Roland wie besessen. Er merkte nichts von der Veränderung, die mit der Abtissin vorging. Mit jugendlichem Schwung trug Roland weitere Informationen zusammen. Er schickte Boten aus, ließ Nonnen aus dem Kloster in den Archiven anderer Klöster forschen und hängte immer neue Pläne an die Wände seiner Kemenate ...
Die Kunde von Rolands Tätigkeit mußte wohl bis zu den Fürstenhöfen und nach Avignon gelangt sein, denn knapp einen Monat vor der Niederkunft Elisabeths klopfte ein Mönch an die Pforte des Klosters von Altomünster, der vorgab, in bischöflichem Auftrag zu handeln. Er bot Roland von Coburg an, seine Kathedrale weiterzubauen; die nötigen Mittel seien vorhanden, desgleichen Material, gute Meister und Gesellen.
Die Nonnen schenkten Roland zum Abschied Abschriften ihrer Heilkräuter- und Pflanzenbücher. Er versprach wiederzukommen, wenn die Kathedrale fertig sei, doch alle wußten, daß sie sich frühestens im Reich Gottes wiedersehen würden ...
Er baute noch zehn Jahre bis zur Fertigstellung des Mittelschiffs. Zur feierlichen Eröffnungsmesse mußte er bereits mit einer Sänfte getragen werden. Er bat darum, daß sein zu dieser Zeit dreiundzwanzig Jahre alter Sohn Anselm, ein hübscher junger Mann mit Talent und dem Humor seiner Mutter, seine Pläne vollenden solle. Das Domkapitel erklärte sich nach einigen Tagen Bedenkzeit bereit, Anselm von Coburg die weitere Bauleitung zu übertragen.
Auf dem Sterbebett nahm Roland seinem Sohn den Schwur ab, keinem Menschen zu verraten, daß er erst wenige Monate vorher Stiefgeschwister Anselms unter dem Dach der Kathedrale versteckt hatte. Aber er weihte Anselm nicht in alles ein. Das eigentliche Geheimnis hatte Roland zusammen mit dem Großen Testament in der kleinen Welt von Lancelot und Gudrun verborgen ...
Anselm hielt sein Versprechen.
Dreißig Jahre später konnte er das von seinem Vater begonnene Werk mit zwei mächtig und stolz in den Himmel ragenden Westtürmen beenden. Die Kathedrale war fertig. Die gesamte Bauzeit hatte dreiundsiebzig Jahre betragen.
Am Tag nach dem Ende der wochenlangen Feierlichkeiten stieg Anselm wie schon oft zuvor mit einem schweren Sack Salz und verschiedenen Samenbeuteln den langen, vielfach gewundenen Weg nach oben. Es fiel ihm nicht mehr so leicht wie früher.
Am Eingang zum Sakriversum, wie die Verstoßenen ihre kleine Welt inzwischen getauft hatten, leuchtete ein frisches Siegel im Licht der Nachmittagssonne. Es trug lateinische, griechische, ägyptische und arabische Symbole.
Sie wollten nicht mehr, daß er sie besuchte.
Er legte seine Geschenke in eine Mauernische unter einem großen, bunt im weißen Stein leuchtenden Rosettenfenster. Lange Zeit blickte er über die Stadt, die Wälder und die Felder hinweg.
Er genoß die Stille, aber er vermißte auch das Geräusch der Meißel, Vorschlaghämmer, Breitbeile und Spannsägen. Zollstock, Zirkel, Winkelmaß und Senkblei hatten gute Arbeit getan.
Wieviel Mühe, wieviel Schweiß und wieviel Aufopferung steckte in jedem der säuberlich behauenen Steinblöcke der Kathedrale!
Anselm war noch nicht geboren, als der Bischof den ersten Stein des Fundaments geweiht hatte. Jetzt legte der Sohn des Baumeisters zum letztenmal eine Schicht Mörtel in eine Ecke des Rosettenfensters. Er goß den Inhalt eines Ledersäckchens aus und strich ihn glatt. Mit einem Holzbeitel drückte er kleine Buchstabenreihen in den Speis - sein Abschied von der Kathedrale.
Als er wieder nach unten stieg, nahm er sich vor, etwas für die anderen Kinder zu tun, die unter ähnlichen Verhältnissen geboren wurden wie Lancelot und Gudrun. Er dachte an die Nordseite unter dem Kathedralendach. Dort gab es nur früh am Morgen und am Abend Sonne. Kein Platz zum Leben, aber vielleicht ein Zufluchtsort in Zeiten der Bedrängnis ...
*
Die Spur von Anselm verlor sich später in der Geschichte. Während die Zeit der Minnejahrhunderte zu Ende ging, kehrten die Päpste von Avignon nach Rom zurück. Als Pest und Hungersnöte ein Viertel der Bevölkerung Europas dahinrafften, vermehrte sich die kleine Familie unter dem Dach der Kathedrale weiter. Lancelot und Gudrun bekamen vier Kinder. Sie nannten sie Heinrich, Isolde, Adelheit und Rüdiger.
Heinrich und Isolde zogen im Jahr 1348 - es war das Jahr, in dem die Türme fertig wurden - in ein eigenes kleines Haus im Garten ihrer Eltern. In kurzer Folge wurden ihnen Ekkehard, Friedrich und Breida
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